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Aus: Ausgabe vom 14.09.2024, Seite 15 / Geschichte
US-Hinterhof

Das Dilemma der Armen

Vor 30 Jahren intervenierten die USA in Haiti und setzten Präsident Jean-Bertrand Aristide wieder ein
Von Volker Hermsdorf
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Präsident von des Präsidenten Gnaden. Jean-Bertrand Aristide und US-Präsident William Clinton (Washington, 14.10.1994)

Am 19. September 1994 landeten 3.000 US-Soldaten auf der Karibikinsel Haiti. An dieser dritten Invasion innerhalb eines Zeitraums von 100 Jahren waren bis März 1995 bis zu 25.000 GIs beteiligt. Doch anders als bei den vorangegangenen US-Aktionen begrüßte dieses Mal eine jubelnde Menschenmenge die Invasoren im Hafen der Hauptstadt. Die Euphorie war ein Ausdruck der Hoffnung. Denn mit den Soldaten kehrte auch der 1991 durch einen Putsch gestürzte Präsident Jean-Bertrand Aristide zurück. Nach drei Jahren grausamer Herrschaft der Militärjunta erwartete die mehrheitlich arme Bevölkerung, dass der Priester und Anhänger der Befreiungstheologie seine politischen Ideen zur Armutsbekämpfung, für mehr Bildung, bessere Gesundheitsversorgung und soziale Gerechtigkeit nun umsetzen würde. Doch für die Rückkehr zur Macht hatten die USA Aristide einen hohen Preis abverlangt. Während die US-Regierung von Präsident William Clinton die als »Operation Uphold Democracy« bezeichnete Intervention als Erfolg feierte, litten viele Bürger Jahre später unter schlechteren Lebensbedingungen als zuvor. Und zehn Jahre nach der Invasion zwangen die USA den für sie nutzlos gewordenen Aristide, sein Land erneut zu verlassen.

»Schwarzer Castro«

Das politische Engagement des 1953 in eine arme kleinbäuerliche Familie geborenen Priesters begann während der Diktatur des Duvalier-Familienclans. Von 1957 bis 1986 hatten François (Papa Doc) und sein Sohn Jean-Claude (Baby Doc) Duvalier die Republik in einen autoritären Staat verwandelt, der sich auf die Armee und die regimetreue Schlägertruppe »Tonton Macoutes« stützte. Eine kleine, reiche Oberschicht profitierte davon, während die Zahl der Armen ständig zunahm. Dem von Washington unterstützten Regime, dessen Schergen meist auch auf der Gehaltsliste der CIA standen, fielen 30.000 Menschen zum Opfer. »Wenn ihr hungrig seid, schaut zu denen, die satt sind«, forderte Aristide seine Landsleute auf, die zu 95 Prozent Nachfahren afrikanischer Sklaven sind. Unterstützt von der ländlichen Bevölkerung und Bewohnern der Slums rief er die Bewegung »Fanmi Lavalas« (Lodernde Flut) ins Leben, um »das Regime des Elends« zu beenden.

Der rasante Aufstieg der Lavalas veranlassten die USA und die herrschenden Kreise Haitis, Duvalier zu opfern. Im Februar 1986 wurde Baby Doc zusammen mit einem aus der Staatskasse geraubten Vermögen an Bord eines US-Militärflugzeuges nach Paris gebracht. Nach einer Periode von Putschen und Gegenputschen drängten die USA schließlich auf »freie und faire« Wahlen. Washington investierte Millionen US-Dollar in den Wahlkampf des US-freundlichen Kandidaten und ehemaligen Weltbankmitarbeiters Marc Bazin. Die CIA organisierte zugleich Kampagnen, die Aristide als »schwarzen Castro« und »marxistischen Irren« dämonisierten, der Klassenkampf und Revolution befürworte. Dennoch wurde der linke Theologe am 16. Dezember 1990 mit der Mehrheit von 67,48 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt.

Nach seiner Wahl verfolgte Aristides trotz seiner Angriffe auf »das imperialistische und kapitalistischen System« eine eher sozialdemokratisch ausgerichtete Wirtschaftspolitik, warb um die »Mitarbeit« der, wie er es nannte, »nationalistischen Bourgeoisie« und akzeptierte Gespräche mit internationalen Finanzorganisationen. Obwohl er damit begann, die Macoutes zu entmachten, staatlichen Ländereien umzuverteilen und den Mindestlohn zu erhöhen, stimmte Aristide auch einem Programm zur Handelsliberalisierung zu. Der Spagat zwischen den Interessen des Volkes, der Bourgeoisie und den USA misslang.

Washington, die haitianische Elite und die Armee bereiteten – unterstützt von einer Destabilisierungskampagne der CIA – einen Putsch vor. Sieben Monate nach seiner Wahl wurde Aristide durch rechte Militärs unter der Führung von General Raoul Cédras gestürzt und musste fliehen. Die Junta etablierte ein neues Schreckensregime, terrorisierte die Zivilbevölkerung und tötete in drei Jahren rund 5.000 Aristide-Anhänger. »Viele Opfer wurden gefoltert und mussten sich in die offene Kanalisation legen, bevor sie erschossen wurden«, berichtete das US-Magazin Time. Nach der Niederlage von George W. Bush bei den Wahlen 1992 drängten Mitglieder der einflussreichen Vereinigung afroamerikanischer Mitglieder des Kongresses »Congressional Black Caucus« die neue Regierung, einzugreifen und Aristide wieder an die Macht zu bringen. Doch Präsident William Clinton zögerte. »Wenn Haiti einfach in der Karibik versinken oder 300 Fuß hoch aufsteigen würde, wäre das für unsere Interessen völlig egal«, warnte einer seiner Berater, der damalige Senator Joseph Biden aus Delaware. Als die Zahl der Haitianer, die vor den Greueltaten auf behelfsmäßigen Flößen von der Insel flohen, 60.000 erreichte, erklärte Clinton: »Jetzt müssen wir handeln«.

Neoliberale »Reformen«

Am 17. September 1994 teilte der Chef des Weißen Hauses mit, dass der ehemalige Präsident James Carter und General Colin Powell nach Haiti gereist seien, um Aristides Rückkehr vorzubereiten. Den Junta-Führern drohte Powell: »Die Truppen kommen, die Flugzeuge sind startklar.« Kurz darauf begann die Invasion unter dem Vorwand, die Machtübergabe von Raul Cédras an den gewählten Präsidenten Jean Bertrand Aristide sicherzustellen. Washington hatte dafür von dem einstigen Rebellenführer einen hohen Preis gefordert. Aristide ging den »Pakt mit dem Teufel« ein und stimmte einer von IWF und der Weltbank entworfenen neoliberalen »Strategie des sozialen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus« zu. In seiner 2001 begonnen zweiten Amtszeit fiel er trotzdem in Ungnade. Frankreich und die USA nutzen innere Unruhen im Februar 2004 als Vorwand für eine erneute Intervention. US-Militärs entführten Aristide und seine Familie und flogen sie in die Zentralafrikanische Republik, wo sie festgehalten wurden, während sich in Haiti ein neues prowestliches Regime etablierte.

Noch 30 Jahre später bestätigt sich, dass die Invasion von 1994 maßgeblich zu vielen der aktuellen Probleme Haitis beigetragen hat. Das von Washington erzwungene Abkommen mit dem IWF und der Weltbank unterwarf das Land deren neoliberaler Strukturanpassungspolitik, die den Markt für den Außenhandel öffnete. Ein Ergebnis davon ist, dass Haiti heute den Großteil seiner Lebensmittel importieren muss. »Das Dilemma ist, denke ich, das klassische Dilemma der Armen; eine Wahl zwischen Tod und Tod«, schrieb Aristide sechs Jahre nach der Invasion. »Entweder wir lassen uns auf ein globales Wirtschaftssystem ein, in dem wir nicht überleben können, oder wir weigern uns, und uns droht der Tod durch langsames Verhungern.«

Der zweite Putsch

»Ich bin seit dem Staatsstreich gegen Präsident Aristide im Jahr 1991 in die US-Politik gegenüber Haiti involviert. Ich lernte Präsident Aristide kennen, als er nach dem Staatsstreich von 1991 hier im Exil lebte. Gemeinsam mit anderen Mitgliedern des Kongresses überzeugte ich die Clinton-Regierung, zu intervenieren, damit er nach Haiti zurückkehren und seine Position als gewählter Präsident wieder einnehmen konnte. Als Ergebnis dieser Bemühungen konnte Präsident Aristide 1994 tatsächlich zurückkehren. (…)

Die traurige Realität ist, dass dieselben Personen, die den Putsch von 1991 unterstützten, auch an der Planung des diesjährigen Staatsstreichs beteiligt waren. (…) Ich bin überzeugt, dass an dem jüngsten Putschversuch nicht nur bewaffnete Schläger beteiligt waren, sondern auch unser eigener Botschafter Roger Noriega. (…)

Präsident Aristide sagte mir, dass er gezwungen wurde, Haiti am 29. Februar 2004 zu verlassen, nachdem ihm von US-Beamten mitgeteilt wurde, dass er und viele andere Haitianer getötet würden, wenn er sich weigere. (…)

Die Mitglieder des Senatsausschusses für auswärtige Beziehungen müssen die Wahrheit über die Rolle unserer Regierung bei der Organisation und Durchführung des Staatsstreichs, der zum Rückzug von Präsident Aristide führte, herausfinden. Das amerikanische Volk verdient es zu erfahren, wie und warum diese Regierung zugelassen hat, dass eine demokratisch gewählte Regierung von einer Gruppe schwer bewaffneter Schläger gestürzt wurde.«

Erklärung der demokratischen Kongressabgeordneten Maxine Waters (Kalifornien) vor dem Ausschuss für auswärtige Beziehungen des Senats der Vereinigten Staaten vom 10. März 2004.

Quelle: https://www.blackagendareport.com/testimony-coup-detat-haiti-maxine-waters-march-4-2004

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  • Leserbrief von Volker Wirth aus Berlin (16. September 2024 um 13:05 Uhr)
    Der Beitrag verdeutlicht einmal mehr, was der Imperialismus auch kann und ohne Skrupel tut, wenn ihm eine Regierung nicht passt: Intervenieren und das Staatsoberhaupt entführen. Aristide wurde in zwei freien Wahlen zum Präsidenten gewählt, und auch 2022 gab es bei Demonstrationen wieder Forderungen, ihn zumindest als Chef einer Übergangsregierung einzusetzen. Denn trotz seines Paktes mit dem Teufel (mit IWF, Weltbank und dem Weißen Haus) verbinden offenbar viele Haitianer noch immer große Hoffnungen mit dem 2011 (allerdings erst spät nach den desaströsen Erdbeben am 12. Januar 2010) aus Südafrika zurückgekehrten »Priester der Armen«. Aber dem Imperialismus ist und bleibt er verdächtig – also kommt so etwas nicht in Frage. Egal, was das gemeine Volk dazu sagt. Wenigstens wurde Aristide nicht wie Lumumba gefoltert, ermordet, zerstückelt und in Salzsäure aufgelöst.

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