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Aus: Ausgabe vom 14.09.2024, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Siegfriedeneuphorie

Von Arnold Schölzel
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Dienstag abend, Haus der Berliner Festspiele: Am Podium wiederholt Petra Erler, die zusammen mit Günter Verheugen ein Buch über die Vorgeschichte des Ukraine-Krieges veröffentlicht hat, die Warnung Albert Einsteins vor einem Atomkrieg. Im Publikum sagt ein Mittdreißiger: »Das kann man nicht vergleichen.« Am Podium ramentert derweil die »Taurus«-Freundin Claudia Major gegen Erlers Aufruf zu Verhandlungen: Mit Putin könne es die nicht geben. Beifall von nicht wenigen Zuhörern.

Die Kriegsstimmung beim Wilmersdorfer Publikum ist gut, öffentliche Widerrede kommt ja auch kaum vor. Zwei Beispiele sind ein Gastbeitrag Michael Rühles – mehr als 30 Jahre im Internationalen Stab der NATO – in der Welt: »Gefährlich wird es, wenn eine Nuklearmacht in die Enge getrieben wird.« Im Freitag lässt dessen Redakteur Michael Jäger auf Seite eins titeln: »Wo beginnt Verhandlung?« Darunter steht: »Olaf Scholz redet von einer Friedenskonferenz und lässt neue US-Raketen stationieren, über die Russland verhandeln wollte.«

Rühle warnt davor, aus der zurückhaltenden Reaktion Russlands auf den ukrainischen Vorstoß in Kursk Schlussfolgerungen zu ziehen, wie die: »Damit sei die Begründung für das Vorenthalten weitreichender Waffensysteme an die Ukraine endgültig hinfällig geworden.« Oder sogar zu erklären, die atomare Abschreckung sei generell als »Schimäre entlarvt«. Rühle: Das Ignorieren »roter Linien« habe »einen Haken: Sie kann sich sehr schnell als falsch herausstellen.«

Im Herbst 2022 habe zum Beispiel die US-Administration angesichts russischer Niederlagen in der Ukraine befürchtet, Moskau könne zu Atomwaffen greifen. Biden verglich damals die Situation mit der Kuba-Krise 1962 und erklärte: »Putin scherzt nicht.« Aus Rühles Sicht erscheint es daher »fahrlässig«, aus dem Ausbleiben einer russischen atomaren Reaktion auf Kursk zu schließen, dass Atomwaffen keine Bedeutung zukomme. Sollte die westliche Politik, »wie von vielen Diskutanten gefordert, über die Sicherung des Überlebens der Ukraine hinausgehen und eine Niederlage Russlands anstreben, bekämen die nuklearen Drohungen Moskaus eine völlig neue Dimension«. Und: »Denn dass man eine echte ›rote Linie‹ überschritten hat, weiß man erst, wenn es zu spät ist.«

Jäger erinnert im Freitag daran, dass Russland lange vor dem 24. Februar 2022 im Winter 2021/2022 auf Verhandlungen drängte, nicht »zartfühlend«, sondern begleitet von Truppenstationierung an der ukrainischen Grenze. Das sei vergleichbar mit der NATO-Methode beim sogenannten Doppelbeschluss 1979: Raketen stationieren und Verhandlungen erzwingen. Russland habe sich 2021 jedenfalls durch Stationierung von Mittelstreckenraketen westlich seiner Grenzen bedroht gefühlt und »hatte also über genau das verhandeln wollen, was später wirklich geschah. Denn wie man weiß, hat der Bundeskanzler kürzlich ein Papier unterschrieben, in dem die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen angekündigt wird«. Die NATO habe 2021/2022 geantwortet, Russland erhebe »unrealistische Forderungen«. Jäger fasst zusammen: »Die Politiker, die den Ton angeben, wollen auch mit der eigenen Bevölkerung nicht verhandeln. Diese wird abgespeist: Russland habe doch ebensolche Raketen bereits in Kaliningrad stationiert. Aber die Entsprechung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland wären russische in Kuba, die gibt es nicht. Wenn weiter so abgelenkt wird, braucht man sich über Wahlerfolge der AfD nicht zu wundern.«

Und nicht über von der Siegfriedeneuphorie in »Ampel« und CDU/CSU Erfasste wie am Dienstag im Festspielhaus. Jene beruht auf dem Zweifel, ob es Russland überhaupt gibt. Das soll als Staat schließlich ja wieder einmal verschwinden.

Sollte die westliche Politik, »wie von vielen Diskutanten gefordert, über die Sicherung des Überlebens der Ukraine hinausgehen und eine Niederlage Russlands anstreben, bekämen die nuklearen Drohungen Moskaus eine völlig neue Dimension«.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (16. September 2024 um 14:14 Uhr)
    »Aber die Entsprechung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland wären russische in Kuba, die gibt es nicht. Wenn weiter so abgelenkt wird, braucht man sich über Wahlerfolge der AfD nicht zu wundern.« Wieder mal so ein Beispiel, wie der AfD fälschlicherweise unterstellt wird, sie sei gegen Aufrüstung und Krieg.

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