Klangloses Ende
Von Erich HacklVielleicht ist die Enttäuschung über Ljuba Arnautović’ neuen Roman deshalb so groß, weil die ersten beiden Bände ihrer von Widerstand, Flucht, Zwangsarbeit und Trennungsschmerz bestimmten Familiengeschichte derart fesselnd und gehaltvoll waren, dass man sich nun, im letzten Teil der Trilogie, ans Mittelmaß nicht gewöhnen mag. Debütiert hatte die in Kursk geborene Wiener Schriftstellerin 2018 mit dem Roman »Im Verborgenen«, in dem es um ihre sozialdemokratisch, dann kommunistisch gesinnte Großmutter Eva ging, die während der Naziherrschaft sechs jüdische Verfolgte versteckt und damit vor der Deportation gerettet hatte.
Drei Jahre später folgte mit »Junischnee« die Geschichte von Evas Söhnen Karl und Slavko Arnautović, die nach den Februarkämpfen 1934 als Schutzbundkinder in der Sowjetunion aufgenommen und Anfang der 1940er Jahre vom großen Terror der Stalin-Ära erfasst worden waren. Die Halbbrüder wurden – im Abstand von 18 Monaten – wegen »konterrevolutionärer Agitation« verhaftet. Während Slavko im Gefängnis von Tschistopol zugrunde ging, überlebte Karl drei Straflager, ehe er 1953 aus dem Gulag entlassen wurde und die junge russische Arbeiterin Nina heiratete, die ebenfalls zu einer Lagerstrafe verurteilt worden war. Mit ihr und der gemeinsamen Tochter Ljuba – der späteren Autorin – kehrte er im Herbst 1956 nach Wien zurück. Im Drang, die durch Haft und Elend verpasste Lebenszeit nachzuholen, verstieß er Nina und steckte seine Töchter – Larissa, die jüngere, kam schon in Wien zur Welt – in ein Kinderheim.
Keine Rücksicht
Der dritte Roman setzt dort ein, wo der zweite endet: mit Karl Arnautović’ Entschluss, Ljuba und Larissa (alias Luna und Lara) zu sich nach München zu nehmen. Dort hat er sich mit seiner dritten Frau niedergelassen, reüssiert als Übersetzer und Vermittler im Handel mit sowjetischen Betrieben, wird wegen »geheimdienstlicher Agententätigkeit«, über die auch die Autorin keine Klarheit gewinnt, in Bayern zu einer geringfügigen Freiheitsstrafe verurteilt und, schon im Alter, von Kriminellen aus seiner Moskauer Garage entführt. Man gewinnt den Eindruck, dass Karls Karriere und ebenso seine Großmannssucht paradoxerweise den Erfahrungen in einer Gesellschaft geschuldet waren, in der bei jeder Gelegenheit das Kollektiv propagiert wurde. Der sowjetische Alltag hatte ihn gelehrt, nur an sich selbst zu denken. »Stärker sein als andere. Keine Rücksicht nehmen. Immer nach oben streben, dorthin, wo die Macht ist.« Unter Karls Ehrgeiz und Ungeduld leiden nicht nur seine jeweiligen Frauen, sondern auch die ältesten Töchter, die vom Vater bald auseinandergerissen werden und nur durch Briefe zwischen München und Wien Kontakt halten, ehe sie einander für lange Zeit fremd werden. Allerdings gesteht die Erzählerin ihrem Vater zu, dass er den Töchtern feministische Werte vermittelt habe: »Lass nie einen Mann über dich bestimmen. Bei der geringsten Andeutung von Gewalt verlass ihn auf der Stelle. Lerne so viel wie möglich, ein guter Beruf macht dich unabhängig. Behalte stets die Kontrolle über dein Leben, deinen Besitz und in erster Linie über deine Gefühle.«
Im Zeitraffer
»Erste Töchter« ist ein hochpolitischer, kein belangloser Roman. Aber seine Vorzüge, zu denen der Mut zählt, die seit der Nazizeit grassierende Russophobie aufzuzeigen (1918 und danach waren viele österreichische Kriegsgefangene als glühende Russenfreunde heimgekehrt), vermögen die kompositionellen und sprachlichen Mängel nicht wettzumachen. Die Jugendjahre der Autorin (und ihrer Hauptfigur Luna) werden lieblos und wie im Zeitraffer abgespult: Schülerzeitung, Demonstration, Polizeigewalt, Hausbesetzung, Kampf gegen das Abtreibungsverbot, Wohnen in einer Kommune, Agitation vor Fabriktoren – über alles huscht Arnautović in ein paar nichtssagenden Sätzen hinweg, als müsste sie sich für die damaligen Überzeugungen schämen, und reproduziert die Gemeinplätze des linksliberalen, manchmal auch des ganz gewöhnlichen Spießers, indem sie schreibt, dass linke Studentinnen Flugblätter »im missionarischen Eifer« verteilen, »Deutschland seit Jahren von der ›Roten Armee Fraktion‹ terrorisiert« wird (die Zeitform des Romans ist das Präsens) und überdies »viel früher als Österreich mit der Aufarbeitung der Naziverbrechen begonnen« hat. Welches Deutschland meint sie denn, könnte man fragen. Die BRD mit KPD-Verbot, Radikalenerlass und den braven Aufarbeitern Filbinger, Globke, Kiesinger? Kurios, dass die Enkeltochter zweier Schutzbundkämpfer auch in diesem Buch, wie durchgehend schon im »Junischnee«, aus dem Republikanischen einen Demokratischen Schutzbund macht, den es nie gegeben hat, und die Österreichischen Freiheitsbataillone bei der jugoslawischen Partisanenarmee als »Österreichische Legion« bezeichnet. Wenigstens an solchen Stellen hätten die Lektorin, die in einer Nachbemerkung von Arnautović in den Himmel gehoben wird, oder ein Korrektor, falls der Verlag noch einen beschäftigt, eingreifen müssen.
Dichterische Freiheit
Es gibt noch anderes, das den Leser befremdet. Die Eigenart, einen Erzählfaden zu spinnen – und ihn dann nicht wieder aufzunehmen, so dass die Geschichte in der Luft hängt. Die fehlende Tiefe des Romans, weil seine Handlung aus aneinandergereihten Anekdoten besteht und manches darin, wie die wiedergewonnene Schwesternliebe zwischen Luna und Lara, nicht gestaltet, bloß behauptet wird. Die Willkür, mit der die Verfasserin eine Episode breit ausgewalzt, die nächste in einem oder zwei Sätzen abgehandelt hat, und die Wiederholung eines Sachverhalts, der ohnehin schon in eingestreuten Briefen mitgeteilt wurde.
Der Roman, so mein Eindruck, legitimiert sich nicht durch sich selbst, seine innere Glaubwürdigkeit, sondern durch unser Wissen, dass er eine »wahre Geschichte« erzählt; andererseits beansprucht Ljuba Arnautović dichterische Freiheit, wie ihre Behauptung zeigt, dass »meine Schwester Larissa, die ich zur Romanfigur gemacht habe«, in Wirklichkeit »ganz anders« sei. Es ist dieses kokette, im Grunde kindische Lavieren zwischen Fakt und Fiktion, das einem die Lektüre verleidet: »Handlung, Figuren, Orte und Zeiten des Romans sind literarisch fiktional, auch wenn sie in Teilen auf wahren Begebenheiten beruhen.«
Am Ende dankt die Autorin den »österreichischen Steuerzahler:innen für ihren Beitrag zur Kunstförderung«. Wirtschaftssubjekten für ein Staatsstipendium zu danken, das sie sich mit der Mehrwertsteuer auf Miete, Lebensmitteln, Laptop und Fahrkarten ohnehin selbst finanziert hat – dazu gehört schon ein gerüttelt Maß an Chuzpe, Naivität oder Stammtischpopulismus.
Ljuba Arnautović: Erste Töchter. Paul-Zsolnay-Verlag, Wien 2024, 156 Seiten, 24 Euro
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