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Aus: Ausgabe vom 16.09.2024, Seite 11 / Feuilleton
Klassik

Das Leichte überwiegt

Amerikanische Musik auf dem Musikfest Berlin. Eine Zwischenbilanz
Von Kai Köhler
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Aufgepasst: Kazuki Yamada dirigiert das Deutsche Symphonieorchester (6.9.2024)

Gibt es amerikanische klassische Musik? In dem Sinne, dass sie etwas Gemeinsames aufweist? Das Musikfest Berlin 2024 (24. August bis 18. September) nahm mit einem Konzert des São Paulo Symphony Orchestra unter Thierry Fischer auch den Süden des Doppelkontinents in den Blick bzw. ins Ohr. Überzeugend war vor allem das expressive Violinkonzert des Argentiniers Alberto Ginastera, wohlkonstruiert, mit aufgerautem Orchestersatz und ganz ohne Folklorismen. In »Amériques« (118–22) ließ Edgard Varèse nach seiner Übersiedlung aus Europa Aufbruchsstimmung und Wagemut der für ihn neuen Welt Klang werden. Dafür führte er ein Riesenorchester, inklusive Sirenen, zu immer stärkeren Steigerungen voller rhythmischer Überlagerungen. Die Maßlosigkeit des Werks wurde angemessen hörbar.

Die ökonomischen Machtverhältnisse begünstigen Institutionen und Künstler in den USA. Dies schlug sich auch in der Programmgestaltung nieder. In einem Programmheftbeitrag sah Kerstin Schüssler-Bach dort eine »zutiefst egalitäre, ja demokratische Musik, die gleichzeitig innovativ und zugänglich ist«. Nun gab es tatsächlich, anders als einst in Deutschland, in den USA niemals eine Werthierarchie verschiedener Musikformen. Ist aber Zugänglichkeit allein schon demokratisch? Es sollte doch allen das Beste zugänglich sein.

Das Deutsche Symphonieorchester unter Kazuki Yamada führte aus Aaron Coplands Ballett »Appalachian Spring« eine Suite idiomatisch überzeugend auf. Volksmusik, gewürzt mit etwas Strawinsky-Rhythmus: Dieses Erfolgsrezept von 1945 klingt ein wenig nach volksnaher Selbstzufriedenheit. Auf Zugänglichkeit statt Gedankenarbeit setzten in den USA auch die Vertreter der Minimal Music. Deren wohl bedeutendster Vertreter, John Adams, kam in den Programmen gleich zweimal vor. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin spielte unter Wladimir Jurowski die »Harmonielehre« (1984/85). Man kann die rhythmischen Zellen, die sich in diesem Werk pulsierend allmählich verwandeln, leichter spielen, swingender. Die massivere Interpretation verdeutlichte indessen Adams’ Freude an Klangpracht und einer geradezu körperlichen Wirkung. Das Werk reiht Episoden; es ist eine Art musikalisches Road Movie, wie auch »Guide to Strange Places« (2001), das das Cleveland Orchestra unter Franz Welser-Möst mitbrachte. Diese unbekanntere Komposition dürfte die bessere sein; sie führt gegen Ende in düsterere Regionen und belohnt das Zuhören weniger leicht, also mehr.

In den vergangenen Jahren entstanden – nicht nur in den USA – kurze Orchesterwerke, die sich dafür eignen, zum Konzertauftakt in maximal 15 Minuten der Pflicht zur Aktualität zu genügen. Mit solchen klangprächtigen Stücken zeigen Orchester ihre Virtuosität her. Ein paar avantgardistische Spielweisen sind so eingesetzt, dass es garantiert niemanden irritiert. Das allein spricht noch nicht gegen solche Werke. Auch Komponistinnen haben das Genre bedient.

Das Cleveland Orchestra spielte »Can You See?« (2023) von Allison Loggins-Hull. Laut Programmheft hat das Werk mit »Wahrhaftigkeit in einer Phase rassistischer Polizeigewalt« zu tun und will indigene Musik integrieren. Nach interessantem, bedrohlich verschattetem Beginn und ein wenig Konflikt endete aber die Komposition woke-friedlich, wie vorweggenommene Phrasen von Kamala Harris, unter ihr würden alle US-Amerikaner einen Neubeginn der Einigkeit schaffen. Die Berliner Philharmoniker unter Jonathan Nott brachten mit »Orpheus Undone« (2022) von Missy Mazzoli das weitaus überzeugendere Werk. Die Komponistin wählte den Moment, in dem Orpheus den Tod seiner Geliebten Eurydike begreift, und dehnte ihn in die Zeit aus, mit klarer Dramaturgie und ebenso klarem Orchestersatz.

Gefälliger dagegen war »Ácana« (2008) von Tania León, vom Deutschen Symphonieorchester gespielt. Die gebürtige Kubanerin, die 1967 einen Aufenthalt in den USA vorzog, greift in ihrer Hommage an eine Baumart ihrer Heimat lateinamerikanische Rhythmen und Jazz-Elemente auf. Zumindest hierzulande wirkt das wie ein mild-grüner Exotismus. Dass León mehr kann, bewiesen zwei Konzerte des Ensemble Modern. Hier standen, neben einem Liederzyklus, von ihr Werke für kleines Ensemble auf dem Programm. Auch in ihnen geht León von populärer Musik aus. Doch sind die Modelle stärker abstrahiert und fügen sich darum, mit einer Mehrzahl relativ unabhängiger Stimmen, besser einer eigenständigen Form.

Die große Entdeckung dieser Konzerte war indessen die 1901 geborene Ruth Crawford Seeger. In ihren zwischen 1922 und 1932 entstandenen Hauptwerken, Liedern und Kompositionen für kleine Ensembles, ist keine Wendung konventionell, aber alle sind fasslich. Die musikalische Einzelheit ist so ausdrucksvoll wie die enge Verbindung von Musik und Text in den Gesangs­zyklen erhellend. Zugleich ist der Zusammenhang stets gewahrt; sogar die Sätze von kammermusikalischen Suiten sind eng verknüpft. Hinter dem abstrakten Titel »Two Ricer­care« (1932) auf Gedichte von Hsi Tseng ­Tsiang verbirgt sich politischer Protest. In »Sacco, Vanzetti« ist das der Zorn darüber, dass der US-Justizmord an zwei Anarchisten 1927 zu keinem Aufstand geführt hat. In »China­man, Laundryman« geht die Empörung des chinesischen Einwanderers, in einer Wäscherei ausgebeutet zu werden, in die Erkenntnis über, dass ein Landsmann als Chef auch nicht besser ist. Es geht um keine Anerkennung als Mi­grant, sondern gegen Ausbeutung überhaupt. Damit wird der »Chinaman« zum »Worldman«.

Später hat sich Crawford Seeger mit Forschungen zur Folklore befasst. Ähnlich wie Copland griff sie Volksmusik auf. In »Rissolty Ros­solty« (1939–1941) entsteht allerdings der Eindruck von Fröhlichkeit durch komplexe Überlagerungen. Das verweist zurück auf Charles Ives. Wie das Musikfest den 1874 geborenen Jubilar feierte, wird folgen.

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