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Aus: Ausgabe vom 17.09.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Industrie- und Branchenkrise

Autoland im Niedergang

Die Nachfahren der Erfinder des Automobils verlieren ihre Zukunft. Deutschlands Schlüsselindustrie ist auf Talfahrt
Von Klaus Fischer
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Produktion im VW-Stammwerk in Wolfsburg: Die die seit Jahrzehnten bestehende Beschäftigungssicherung beim Konzern ist passé

Dieses Jahr könnte in die europäische Wirtschaftsgeschichte eingehen. Trotz schon seit einiger Zeit zu verzeichnender Symptome ist 2024 nicht nur der Standort BRD im Niedergang begriffen, sondern auch die als Herzstück der deutschen Industrie geltende Automobilbranche. Umsätze gehen zurück, die Profite sind mager oder bleiben aus. Hersteller klagen zunehmend lauter und kündigen Jobabbau, Verlagerung ins Ausland oder gar Werkschließungen an. Statt die Sektkorken knallen zu lassen, greift man in Wolfsburg, München oder Stuttgart zum Rotstift. Und Experten tun so, als müssten sie rätseln, weshalb das alles geschieht. Dabei lief es doch jahrzehntelang super.

Die Bundesrepublik gilt schlechthin als Autoland. Seit Carl Benz 1885 mit dem »Benz-Patent-Motorwagen Nummer 1« das erste von einem Verbrennungsmotor getriebene Personenfahrzeug vorstellte, hat diese Erfindung nach und nach zu einem weltweiten Boom geführt. Mit der Einführung der Fließbandfertigung durch den US-Unternehmer Henry Ford 1914 entwickelte sich eine Industriebranche, die der individuellen Mobilität einen revolutionären Schub gab und für den Gütertransport die Lücke zwischen Warenproduzenten und der bereits im Ausbau befindlichen Eisenbahnen schließen konnte.

Vor allem in den Jahren nach 1945 entwickelte sich die Autofertigung in Westdeutschland rasant und wurde zur Schlüsselbranche. Auch heute noch beschäftigt sie mehr als eine Dreiviertelmillion Facharbeiter, Techniker und Ingenieure. Zugleich trug und trägt der Automobilbau zu einem erheblichen Teil dazu bei, dass die Bundesrepublik eine führende Exportnation wurde und zwischenzeitlich sowohl die USA als auch die aufstrebende Wirtschaftsmacht China hinter sich lassen konnte. Laut Statistischem Bundesamt stand die Branche auch 2023 für 17 Prozent der Warenausfuhren gemessen am ­Umsatz.

Aushängeschild dieser Entwicklung waren immer auch die im Wechsel alle zwei Jahre stattfindenden Internationalen Automobilausstellungen (IAA). Am heutigen Dienstag startet in Hannover die IAA Transportation. Auf dieser Messe für Nutzfahrzeuge werden die gleichen Sorgen vorherrschen wie jene, die 2025 wieder auf der IAA Mobility für Pkw in München zu hören sein dürften.

Diese lassen sich in drei Kernpunkten zusammenfassen: Die von der Politik administrierte Transformation vom Verbrennungsmotor zu alternativen Antrieben wie Elektroenergie oder Wasserstoff (Brennstoffzelle) ist dabei, grandios zu scheitern. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft eine immense Lücke. Zwar haben E-Fahrzeuge vor allem dank des US-Herstellers Tesla und chinesischer Ingenieure einen beachtlichen technologischen Standard erreicht. Doch gab und gibt es zuwenig Stromtankstellen. Zudem sind die Fahrzeuge – außer im Hochpreisbereich für Wohlhabende – kaum markttauglich. Resultat: Immer mehr davon werden auf Halde produziert, nachdem die staatliche Förderung abrupt beendet worden ist. Die teure Umstellung der Hersteller auf E-Antrieb (und sogar eigene Batteriefertigung) droht zum existenzbedrohenden Verlustgeschäft zu werden.

Als Sahnehäubchen gab die deutsche Politprominenz zudem noch einen drauf: Nahezu gleichzeitig ließ sie die letzten Atomkraftwerke – sie galten nach internationalen Standards als modern und sicher – abschalten. Die Sprengung der Kühltürme war zwar ein Fest für Kernkraftgegner – die durchaus vorhandenen Risiken dieser Technologie sollen hier auch nicht kleingeredet werden. Allerdings bleibt es weiterhin ein Rätsel, weshalb zeitgleich auch immer mehr Kohlekraftwerke geschlossen wurden, statt einen längeren Übergangszeitraum einzuplanen.

Den letztlich entscheidenden Schritt Richtung Abschwung machte die Politik mit der uneingeschränkten Parteinahme für das Kiewer Regime nach Beginn des Ukraine-Kriegs Anfang 2022. Dieser Wirtschaftskrieg gegen den wichtigsten Rohstofflieferanten war Gift für die deutsche Ökonomie. Der Strompreis sprang rapide nach oben und liegt auch gegenwärtig noch deutlich über den Werten der Konkurrenz aus USA, Frankreich oder gar China. Eine preisgünstige und sichere Stromversorgung eines Standortes gilt als Kernkriterium für das Interesse von Investoren und die Profitabilität der Warenproduzenten und Dienstleister. Da hilft der Verweis auf »das Klima« wegen der weltweiten Konkurrenzsituation wenig.

Das Kapital flieht

Schnelle Zulieferer

Die Unternehmen der sogenannten Zuliefererindustrie sind eine wichtige Basis für den gesamten Automobilstandort Deutschland. Sie bauen Fahrzeugkomponenten wie Getriebe, Reifen, Elektronik oder Licht oder liefern entsprechende Werkzeuge für die Fertigung. Vor allem aber sind sie auf Gedeih und Verderb von den Autokonzernen abhängig. Derzeit beschäftigt dieser Industriezweig bundesweit laut dpa etwa 270.000 Arbeiter. 2018 waren es noch gut 40.000 Beschäftigte mehr.

In der gegenwärtigen Krise haben die meist kleineren Betriebe schneller reagiert als Volkswagen, BMW oder Mercedes-Benz, die großen drei. Dabei sind einige von ihnen, wie der weltweit größte Zulieferer Robert Bosch GmbH, meist durchaus auf Augenhöhe mit den Herstellern. Auch Unternehmen wie ZF Friedrichshafen oder Continental zählen zu den Branchengrößen. Hinzu kommen zahllose mittlere und kleinere Unternehmen. Allerdings sind sie wegen längerer Planungsvorgaben der Hersteller auch schneller betroffen.

Bosch hat längst den Rotstift angesetzt. Weltweit über 7.000 Stellen will das Stuttgarter Unternehmen streichen, ein Großteil davon in Baden-Württemberg. Trotz Protesten von Tausenden Beschäftigten im Frühjahr will der Konzern an seinen Plänen festhalten. Der Schritt sei notwendig, um wettbewerbsfähig zu bleiben, so die Chefetage.

Auch am Bodensee gehen die Lichter aus: ZF Friedrichshafen hatte ebenfalls mit dem Frühlingserwachen angekündigt, bis Ende 2028 in Deutschland zwischen 11.000 und 14.000 Stellen zu streichen – Werksschließungen inklusive. »Uns ist bewusst, dass wir dazu auch schwierige, aber notwendige Entscheidungen treffen müssen«, zitierte die ARD den Vorstandsvorsitzenden Holger Klein. Proteste von Gewerkschaften und Beschäftigten haben hier wie bei Bosch oder anderswo bislang nichts erreicht.

Continental in Hannover geht einen etwas anderen Weg. Der Branchenriese will sein Autozuliefergeschäft womöglich komplett abspalten und an die Börse bringen. Fragt sich nur, wer die Aktien kaufen soll, wenn der industrielle Abschwung weiter an Fahrt gewinnen sollte. (kf)

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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (16. September 2024 um 22:43 Uhr)
    Der etwas eigentümlichen Argumentation zum Thema Dekarbonisierung im Artikel kann ich nicht folgen. Deutschland hatte einmal eine gute technologische und wirtschaftliche Position im Bereich erneuerbare Energien. Diese Zeiten sind vorbei und ausruhen auf Lorbeeren von gestern ist nicht mehr. Dass beides geht, in der Konkurrenz bestehen und Klimaziele erreichen, zeigt China (die Chinesen sind bei Oberstudiendirektor Doktor Karl Kunze in die Lehre gegangen: Das eine tun und das andere nicht lassen.). Hierzu sei Asian Power (Asian Power is part of the media company, »Charlton Media Group,« a leading B2B publication and events company in Asia with titles such as Singapore Business Review, Hong Kong Business, Asian Banking & Finance, Insurance Asia, and Healthcare Asia), also kein offizöses China-Medium, zitiert: »Countries in the Asia-Pacific region except China are likely to miss their renewable energy (RE) targets by 2030 if they don’t come up with solid policies that would attract investments and boost capacity, energy analysts said.« (DeepL: »Die Länder des asiatisch-pazifischen Raums mit Ausnahme Chinas werden ihre Ziele für erneuerbare Energien (EE) bis 2030 wahrscheinlich verfehlen, wenn sie keine soliden Strategien entwickeln, die Investitionen anziehen und die Kapazitäten steigern würden, so Energieanalysten.« https://asian-power.com/exclusive/asia-pacific-region-may-miss-re-targets). Außerdem: »Auf der «Pariser Klimakonferenz» (COP 21) im Jahr 2015 einigte sich die Staatengemeinschaft erstmals völkerrechtlich verbindlich darauf, die Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen.« Meine Rezeption der jW legt nahe, dass sie Wert auf die Einhaltung völkerrechtlicher Vereinbarungen legt …
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (16. September 2024 um 22:22 Uhr)
    Man mag es kaum glauben – überrascht es plötzlich alle, dass die hochgelobte deutsche Autoindustrie in die Krise schlittert. Wie konnte das nur passieren? Nun ja, wer hätte das je ahnen können, dass man Autos irgendwann nicht mehr endlos teuer verkaufen kann, wenn sie niemand mehr will? Neuwagen, Gebrauchtwagen – alle stehen sie schön brav auf Halde. Aber den Preis senken? Oh nein, das wäre ja Kapitalismus in der falschen Richtung! Wie sagte doch schon Erich Honecker weise zum 40. Jahrestag der DDR: »Den Sieg des Sozialismus hält weder Ochs noch Esel auf!« Tja, genauso unaufhaltsam glaubt auch die Autoindustrie an ihren eigenen Erfolg, und fährt dabei so elegant wie ein Golf Diesel geradewegs an die Wand. Aber keine Sorge, auch wenn hier und da ein Werk schließt und ein paar Tausend Arbeitsplätze flöten gehen, bleibt doch die Hauptsache bestehen: Die Sektkorken knallen sicher weiter in den Chefetagen, während das Kapital Richtung Ausland düst – allerdings in einem schicken E-SUV, versteht sich!

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