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Aus: Ausgabe vom 17.09.2024, Seite 5 / Inland
Einzelhandel

Tarifdrücker im Handel

Im Jahr 2023 arbeitete weniger als ein Viertel der Beschäftigten im Einzelhandel in tarifgebundenen Unternehmen. Vor 20 Jahren waren es noch mehr als drei Viertel
Von David Maiwald
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Von den Firmenbossen arg gebeutelt: Beschäftigte vor dem KaDeWe in der Westcity Westberlins

Beschäftigte im Einzelhandel konnten aufatmen: Nach zähem Ringen stand nach mehr als einem Jahr der Auseinandersetzungen mit dem Handelsverband ein Tarifabschluss. Die Kolleginnen und Kollegen »stehen bundesweit wieder unter dem Schutz rechtsverbindlicher Tarifverträge«, hatte die für den Handel zuständige Bundesvorständin der Gewerkschaft Verdi, Silke Zimmer, zur Einigung erklärt. Das letztlich erreichte Gehaltsplus war nach dem beinahe festgefahrenen Ringen mit den Handelsvertretern ein Erfolg für die Gewerkschaft – der leider für weniger als ein Viertel der Beschäftigten in der Branche gilt.

Denn wie die Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Linke-Gruppe im Bundestag zeigt, sind aktuell gerade einmal 22,9 Prozent der Beschäftigten im Einzelhandel in tarifgebundenen Unternehmen tätig. Vor zehn Jahren hatte der Anteil noch bei 38,2 Prozent gelegen, teilte das Bundesarbeitsministerium mit Verweis auf Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit mit. Demnach ist noch immer knapp ein Drittel (31,8 Prozent) der Erwerbstätigen im Einzelhandel im Niedriglohnbereich, mehr als doppelt so viele wie in der Gesamtwirtschaft (15,3 Prozent). Immerhin: Der Anteil an Niedriglöhnern im Einzelhandel ging demnach seit 2014 um fünf Prozentpunkte zurück.

Vor 20 Jahren hätten noch mehr als drei Viertel der Beschäftigten Tariflohn erhalten, doch »die Arbeitgeber betreiben seit über 20 Jahren systematisch Tarifflucht«, erklärte Verdi-Vorständin Silke Zimmer am Montag gegenüber jW. Die aktuelle Tarifbindung in der Branche sei »unterdurchschnittlich und beschämend«. Vielfach seien die Beschäftigten infolgedessen »von Armut trotz Arbeit und Altersarmut bedroht«. Der Mindestlohn müsse bei der nächsten Erhöhung gestärkt werden, »denn der Kaufkraftverlust der Beschäftigten ist immens«. Aktuell müsse der Mindestlohn nach der EU-Richtlinie bereits 14 Euro betragen, so Zimmer. Verdi fordere eine Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge für alle Betriebe der Branche, »damit der ruinöse Verdrängungswettbewerb zu Lasten der Beschäftigten im Einzelhandel gestoppt wird«.

Die Lücke zwischen Tarifbeschäftigten und tarifungebundenen Beschäftigten ist deutlich: Rund 500 Euro liegen zwischen den Monatsgehältern, wie aus der Antwort des Ministeriums hervorgeht. Die Bedingungen in der Branche seien ohnehin »von prekärer Beschäftigung geprägt«, fasste das Büro der Linke-Abgeordneten Susanne Ferschl zusammen. Der Anteil sozialversicherungspflichtig Beschäftigter ging laut Ministeriumsantwort von 81 Prozent im Jahr 2022 auf 80,7 Prozent im Jahr 2023 zurück. Gleichzeitig seien mit 60 Prozent »überdurchschnittlich« viele Beschäftigte in Teilzeit, bemerkte das Linke-Büro. Mehr als zwölf Prozent aller Erwerbstätigen im Bürgergeldbezug (sogenannte Aufstocker) waren der Regierung zufolge im Einzelhandel beschäftigt.

Wie der Antwort von Hubertus Heils Regierungsressort zu entnehmen ist, klafft bei den Gehältern im Einzelhandel eine deutliche Lohnlücke zwischen Ost und West. Während Tarifbeschäftigte in Brandenburg im Schnitt 19,44 Euro erhielten, waren es in Hamburg zwölf Euro pro Stunde mehr. Kamen tarifgebunden Beschäftigte insgesamt im vergangenen Jahr auf einen mittleren Bruttomonatslohn von 3.796 Euro, waren es im Einzelhandel demnach 2.952 Euro. Im Osten lag dieser zudem auch noch rund 200 Euro niedriger als im Westen. Am wenigsten erhielten nicht tarifgebundene Frauen aus Ostdeutschland mit 2.682 Euro brutto im Monat.

»Die Tarifbindung im Einzelhandel befindet sich im Sturzflug, und die Bundesregierung sieht bislang tatenlos zu«, erklärte Susanne Ferschl am Montag. Die Bedingungen der Branche ließen sich mit »prekären Arbeitsbedingungen und miesen Löhnen« zusammenfassen. »Anstatt Brieffreundschaften mit der Mindestlohnkommission zu pflegen, sollte der Arbeitsminister das Mindestlohngesetz ändern und eine Untergrenze von 60 Prozent des mittleren Einkommens einziehen, so wie es eine EU-Richtlinie vorsieht«, ärgerte sich die gewerkschafts- und arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Linke-Gruppe.

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