Fegen (3)
Von Helmut HögeMein Professor, der marxistische Erkenntnistheoretiker Alfred Sohn-Rethel, besuchte während der chinesischen Kulturrevolution unter anderem den Güterbahnhof von Nanjing. Wieder zurück in Bremen meinte er, der Zentralcomputer würde dort nicht mehr gegen die Eisenbahner eingesetzt, sondern sie würden ihn in ihrem Sinne nutzen. Das war ihm Beweis dafür, dass die chinesischen Genossen auch im industriellen Bereich versuchten, die Trennung von Hand- und Kopfarbeit aufzuheben, nicht nur, indem sie die gebildete Jugend aufs Land schickten – gemäß den berühmten »drei Mits«: »Mit den Bauern leben, arbeiten und lernen!« Alles, um die sogenannten drei Trennungen – von der Praxis, vom Volk und von der körperlichen Arbeit – zu überwinden.
Der Schriftsteller Yu Hua hat im Zusammenhang mit seinem Bestseller »Brüder« (deutsch 2012) die These aufgestellt, dass die vom damaligen Parteiführer Deng Xiaoping 1978 eingeleiteten »vier Modernisierungen«, mit denen der kollektive Altruismus zugunsten einer egoistischen Profitsucht abgelöst wurde, ohne die antiautoritäre Kulturrevolution unmöglich gewesen wäre. Erst diese habe den Chinesen das 2.500 Jahre lang eingedrillte hierarchische Denken von Konfuzius ausgetrieben. Allerdings eröffnete die Volksrepublik vor fast zwei Dekaden in Berlin zusammen mit einer einstigen Maoismushochburg, der Freien Universität, ihr erstes Kulturzentrum ausgerechnet unter dem Namen »Konfuzius-Institut«.
In China schwankt man noch immer zwischen Altruismus und Egoismus. Zum Symbol des ersteren wurde während der Kulturrevolution der einfache Soldat Lei Feng (1940–1962) propagandistisch aufgebaut. 21jährig bei einem Arbeitsunfall verstorben, hatte sich der junge Mann als »kleine Schraube der Revolution« begriffen und entsprechend gehandelt, unter anderem mit einem Besen. Deshalb galt er als »vorbildlicher Mensch«. Seine Notate im Geist der Aufopferung für das Gemeinwesen wurden etwa als Comicroman adaptiert, der in Westdeutschland 1973 erschien. Zur gleichen Zeit hatte Joseph Fischer für den Voltaire-Verlag einen theoretischen Text über die »Aufhebung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit« in der chinesischen Kulturrevolution übersetzt – es handelte sich dabei um einige Kapitel einer Doktorarbeit aus Harvard.
Des jungen Soldaten Lei Feng und seines kurzen Lebens nahm sich 2000 Jürgen Kuttner für seine erste Volksbühnen-Inszenierung an – nicht zuletzt, weil »uns Ostler doch immer noch der ganze SED-Staat um die Ohren gehauen wird, aber den ehemaligen Maoisten im Westen man die chinesischen Verbrechen nie vorwirft«. Kuttner dachte dabei an die Greuel der Kulturrevolution – und widmete deswegen nun Lei Feng ein Comicmärchenstück. Zwischenzeitlich war der Volksbefreiungsarmist in China sogar zu einem »Popstar« geworden, wie etwa die FAZ 2012 behauptete.
So gab es bereits Mitte der nuller Jahre das Computerspiel »Von Lei Feng lernen« der Firma Shanda, bei dem derjenige gewinnt, der am meisten anderen Menschen geholfen hat, also der Altruistischste. Und um noch deutlicher zu werden, hatte man damals im renovierten Revolutionsmuseum am Tienamen-Platz ein Wachsfigurenkabinett mit »offiziell anerkannten nationalen Helden« (aus Vergangenheit und Gegenwart) eingerichtet. Am Ende der illustren Parade, »wo der Besucher in die Zukunft entlassen wird«, stehen sich auf der einen Seite Lei Feng und auf der anderen Seite der Microsoftgründer Bill Gates gegenüber: das Politische und das Private, der Revolutionär und der Idiot. Idiot in der alten griechischen Bedeutung von Privatmann – jemand, der sich nicht um die Polis, sondern bloß um seine Privatgeschäfte, den oikos, kümmert. Der US-Präsident Calvin Coolidge (1872–1933) formulierte es positiv gemeint so: »The business of America is business.« In diesem Sinne dürfte Bill Gates der allergrößte Idiot sein – wohingegen die kleine Schraube der Revolution Lei Feng bis zur Selbstopferung das entgegengesetzte Prinzip verkörperte. Die chinesische KP selbst versucht bis heute, beides auszubalancieren. Während gleichzeitig immer mehr KP-Politiker die polis zu ihrem oikos machen und die Kopfarbeiter wieder auf die Handarbeiter herabsehen.
Erinnert sei nur an die Literaturdozentin Yue Daiyun, die während der Kulturrevolution zur Arbeit auf dem Land verurteilt wurde – zusammen mit den Intellektuellen der Universität Beijing. Sie sollten am See Poyang »ein Projekt zur Umwandlung der Sommerschlammflächen des Sees in festes Land beginnen«. In ihren Erinnerungen schreibt sie: »Manche Intellektuelle fühlten sich wirklich allen anderen in der Gesellschaft überlegen; und einige, besonders die Männer unter den Akademikern, waren wirklich vollkommen hilflos – sie konnten nicht einmal Teewasser heiß machen, so sehr waren sie es gewöhnt, von anderen versorgt zu werden.«
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