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Aus: Ausgabe vom 17.09.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Befreiend viele Pfunde

Wie verfilmt man den Holocaust? Julia von Heinz dreht mit »Treasure« eine kluge Adaption von Lily Bretts Romanvorlage »Zu viele Männer«
Von Ronald Kohl
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Wertvolle Zeit: Ruth (Lena Dunham) und Vater Edek (Stephen Fry)

Als Ruth (Lena Dunham) 1991 das erste Mal in ihrem Leben nach Polen reist, ist sie 36 Jahre alt. Ihre Mutter ist da bereits an Krebs verstorben, und es war für Ruth nicht leicht, ihren Vater Edek (Stephen Fry) zu der gemeinsamen Reise in dessen zum Teil verdrängte Vergangenheit zu überreden; die Eltern wurden als Juden in Polen geboren, sind dort aufgewachsen und wurden nach Auschwitz deportiert, wo bis auf sie ihre gesamten Familien ermordet wurden.

Ruth hat sich im Vorfeld der Reise sorgfältig um alles gekümmert, ihr Gepäck ist umfangreich. Sie schleppt außer getrockneter Reformhauskost eine kleine Bibliothek mit sich, fast ausschließlich Bücher über den Holocaust, in denen sie allabendlich, hin und wieder auch für den Kinozuschauer hörbar, liest.

In der von Lily Brett verfassten und sehr stark autobiographisch geprägten Romanvorlage für »Treasure«, die hierzulande 1999 unter dem wörtlich übersetzten Titel »Zu viele Männer« im Suhrkamp-Verlag erschien, besaß die Heldin noch eine Direktverbindung in die Vergangenheit. Sie hatte immer wieder eine Stimme gehört, die den Dialog mit ihr suchte und ihn schließlich auch fand. Es war die Stimme von Rudolf Höß, dem ersten Lagerkommandanten von Auschwitz. »Sie sind Rudolf Höß?« fragte die Ruth im Roman. Und die Stimme antwortete: »Aber gewiss doch. Wer sollte schon so tun, als wäre er Rudolf Höß?«

Julia von Heinz, Regisseurin und Mitautorin des Drehbuchs von »Treasure«, hat diese spezielle Art von Humor nicht in ihre Verfilmung einfließen lassen. Sie hat, auch wenn sie sehr genau den vorgegebenen Stationen der Reise folgt, einen eigenen Weg gefunden, ein berührendes Werk zu schaffen: Mit beachtlichem Geschick formt sie zwei von der Romanvorlage abweichende, großartige Charaktere.

Die Ruth im Film bringt (ohne Ironie!) befreiend viele Pfunde auf die Wage. »Im Lager waren nur die Aufseher gut genährt«, musste sich die später so erfolgreiche Romanautorin Lily Brett als Kind immer wieder von ihrer Mutter sagen lassen, sobald sie auch nur minimal angesetzt hatte. Außerdem hat Ruth, anders als die Roman­figur, keinen Freund, nur einen Exmann, der sie wohl ausschließlich wegen der Greencard geheiratet hatte. Und sie hat auch keine Kinder. Allerdings ist sie eine bekannte Journalistin, so dass ihr Vater hin- und hergerissen ist zwischen großem Stolz und kleiner Verzweiflung.

Bei Ruth und Edek wagt die Regisseurin also einiges und gewinnt dabei sehr viel; auch ohne das zeitgeschichtliche Drama würde diese Vater-Tochter-Reise garantiert ihr Publikum finden!

Deutlich zurückhaltender als bei der Gestaltung der beiden Hauptfiguren zeigt sich die Regisseurin beim Umfeld der Reise. Pauschale Urteile wie das folgende sind bei ihr undenkbar: »Was wollten sie und Edek hier, fragte sich Ruth«, heißt es an einer Stelle im Roman. Und weiter: »Hier in Lodz, in dieser jämmerlichen, elenden Industriestadt, wo die Luft voller Kohlenrauch war und die Herzen der Bewohner voller Ruß waren.«

Auch die junge polnische Frau, die gleich zu Beginn von »Zu viele Männer« am hellichten Tag in eine Parkanlage kackt, kommt im Film nicht vor.

Bleibt noch die abweichende Titelwahl. »Too Many Men« hatte Lily Brett ihr Buch mit Bezug auf die zu vielen Männer genannt, die »nicht unbedingt NSDAP-Mitglieder gewesen waren, die aber weggesehen oder geholfen haben, die vielen erforderlichen Tätigkeiten auszuführen«, so die Autorin.

Der Film heißt nun »Treasure«, also Schatz. Und in der Tat wird am Ende auch etwas geborgen, sowohl im Roman als auch im Film. Nur ist es im Buch etwas, das wirklich nur für zwei Menschen auf dieser Welt von Wert ist.

Regisseurin Julia von Heinz hat sich dagegen entschieden. Edek buddelt bei ihr etwas aus, das keinerlei ideellen Wert besitzt. Er fördert Dokumente zutage, amtliche Papiere, die Besitz verbriefen und damit Macht über andere Menschen bedeuten.

Ich weiß nicht, was Lily Brett über dieses Ende denkt. Doch als sie einmal danach gefragt wurde, ob sie und ihr Vater sich etwas von dessen früherem Eigentum zurückgeholt hätten, antwortete sie: »Uns hat viel gehört. Und mein Vater dachte, das sollte auf seine Enkel übergehen. Aber ich wollte das nicht.«

»Treasure«, Regie: Julia von Heinz, Frankreich/BRD/Polen/USA 2024, 110 Min., bereits angelaufen

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