Offene Türen eintreten
Von Felix BartelsJede Wissenschaft hat ihren Knick in der Optik. Universell ist keine. Die rechnenden Zünfte zum Beispiel neigen ein wenig zum kybernetischen Schematismus – tue ich vorn das rein, kommt das hinten raus. So bleibt kaum Platz fürs Chaos, das immer mit im Spiel ist, und noch weniger für die Mechanismen von Ideologiekritik und Psychologie, die man auf den gesellschaftlichen Erkenntnisfeldern nie ganz herausstreichen sollte.
Das Problem der Verschwörungstheorie reduziert sich technisch auf die Frage von Information und Argument. Entsprechend dominiert in den rechnenden Zünften die Vorstellung, dass Verschwörungsmythen widerlegt werden können. Eine geradezu rührende Naivität legt hier eine aktuelle Studie an den Tag, die unter Leitung von Thomas Costello am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge durchgeführt wurde, wie die Forscher in der naturwissenschaftlichen Fachzeitschrift Science berichteten. Ziel der Studie war, die Möglichkeiten des Einsatzes von KI-Programmen gegen verbreitete Verschwörungsmythen zu nutzen. Was ein bisschen lustig ist, erinnert man etwa die Nachricht aus dem letzten Jahr, dass das Medientool News Guard das Dialogtool Chat-GPT binnen kurzer Zeit dazu brachte, Fake News über den Impfstoff der Firma Pfizer zu verbreiten. Die Indifferenz von KI-Programmen, ihre Brauchbarkeit für jeglichen Zweck, eben aufgrund ihrer Abhängigkeit von dem, was man vorn reintut, macht KI zu einem Risiko für diejenigen, die die Gesellschaft durch Fake News und Verschwörungstheorien bedroht sehen. In Cambridge stellte man nun die Frage, ob sich die Technologie auch in die andere Richtung einsetzen lasse.
Probanden waren mehr als 2.000 Personen, die an gängige Verschwörungsmythen glaubten und Bereitschaft zeigten, mit einer KI über ihre Meinungen diskutierten. Das Programm argumentierte fleißig, brachte Widerlegungen und belegte die mit Quellen. Sensationelle 20 Prozent der Probanden gaben an, nach der Diskussion weniger überzeugt von ihren Überzeugungen zu sein. Zur Tat schritt in zwei Versuchsreihen der Bot Chat-GPT-4 Turbo. »Der Glaube an Verschwörungstheorien ist bekanntermaßen hartnäckig. Einflussreiche Hypothesen gehen davon aus, dass sie wichtige psychologische Bedürfnisse befriedigen und somit nicht für Gegenbeweise zugänglich sind«, schreiben Costello und sein Team zwar, doch ihr Glaube an die Wirkung sachlicher Argumente erweist sich als ebenso hartnäckig. Zumal die Versuche ihn zu bestätigen scheinen: »Unsere Ergebnisse deuten hingegen darauf hin, dass viele Anhänger von Verschwörungstheorien ihre Ansichten revidieren können, wenn ihnen ausreichend überzeugende Beweise vorgelegt werden.«
Die ausgewählten Probanden hingen jeweils mindestens einer gängigen Verschwörungserzählung an, unter denen zumeist populäre waren wie die zur Coronapandemie, den Anschlägen aufs World Trade Center am 11. September 2001, der amerikanischen Präsidentschaftswahl 2020 oder der Mondlandung. Die KI war instruiert, den Probanden argumentativ von seiner Überzeugung abzubringen. Dabei ging der Chatbot in drei Durchläufen individuell auf die Argumentation der Versuchsperson ein und brachte konkret passende Gegenbeweise. Die durchschnittliche Dauer der Diskussionen lag bei 8,4 Minuten. Der Erfolg, betonten die Forscher, sei beständig. Auch zwei Monate nach dem Experiment blieben die Teilnehmer, bei denen Wirkung erzielt worden war, bei ihrer neu gewonnen Skepsis.
Es liegt auf der Hand, was da nicht stimmt. Glaube an gängige Verschwörungstheorien entsteht nicht, weil den Betroffenen irgendwelche Informationen gefehlt oder sie bestimmte Argumente noch nicht gehört haben. Es bedarf einer verfestigten charakterlichen Disposition. Das Substrat des Verschwörungsglaubens liegt im Unbehagen an der gesellschaftlichen (politischen) Wirklichkeit. Dieses Unbehagen haben viele, und bei weitem nicht jeder, der es hat, neigt zum Verschwörungsglauben. Was hinzutreten muss, ist der Umschlag des Unbehagens in eine vollständige Rebellion gegen die Wirklichkeit und das Bedürfnis, komplexe Grundstrukturen der abgelehnten Wirklichkeit in persönlichem Handeln dingfest zu machen. Schuld tritt an die Stelle von Ursache, historischer Materialismus wird in vulgären Materialismus überführt, der auf der Wer-wann-was-Ebene bleibt. Und zugleich, praktisch, den bequemen Glauben transportiert, dass wenn den Verantwortlichen einmal das Handwerk gelegt sei, die Umstände sich bessern werden. Bequem ist der Glaube deswegen, weil diese Lösung allemal näher und einfacher zu erreichen scheint als das Vorhaben, die gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt zu ändern.
Zugleich gibt der Verschwörungsmythos denen, die gegen die politische Wirklichkeit rebellieren, die Möglichkeit, das Realitätsprinzip nicht offen verletzen zu müssen. In ihrer Spezialwelt, erbaut durch ihr Spezialwissen, sind sie die Realisten. Das Erscheinen des Internets hat das Erbauen solcher Spezialwelten erleichtert, genauer, das kollektive Erbauen. Verschwörungsgläubige können sich vernetzen und ein selbstreferentielles System aus alternativen Publikationen und alternativen Quellen aufbauen, das sich nahezu vollständig vom herkömmlichen Betrieb der Meinungen abkoppeln kann. Nicht zuletzt das macht den Glauben an Verschwörungen so hartnäckig.
Das Problem einmal beiseite, dass auch im herkömmlichen Betrieb der Meinungen Verschwörungsmythen transportiert werden (wenn auch weniger intensiv und nicht so sehr der Überprüfbarkeit entzogen), die Studie also bereits dadurch kontaminiert ist, dass sie unkritisch ein Richtig und ein Falsch setzt, das nicht weiter hinterfragt wird, ist der größte Fehler in ihrem Ansatz eine Verzerrung, die man eigentlich bereits bei ihrer Konzeption hätte bemerken müssen: Die Menge der Leute, die tatsächlich bereit sind, an einer solchen Studie teilzunehmen, deckt sich nicht ganz mit der Menge der Leute, die fest an Verschwörungen glauben. Der damit gegebene Bias ist derart offensichtlich, dass sich die Frage stellt, wie überhaupt die Idee entstehen konnte, ein solches Experiment durchzuführen.
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