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Aus: Ausgabe vom 18.09.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Atomenergiebehörde

Atomanlagen unter Beschuss

Atomenergiebehörde IAEA über Lage in russisch-ukrainischem Kriegsgebiet besorgt. Russland und Behörde arbeiten weiter zusammen
Von Dieter Reinisch, Wien
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In Sichtweite, in Reichweite ukrainischer Geschütze: Das Kernkraftwerk im russischen Kursk

Es geht um den Schutz des Kernkraftwerks (KKW) Kursk: Am Dienstag hielt der russische Verteidigungsminister Andrej Belousow deshalb eine Sitzung des Koordinierungsrates für die militärische Sicherheit der Grenzgebiete ab, wie die russische Nachrichtenagentur TASS berichtete. Dabei erörterte er mit den Leitern der Regionen Belgorod, Kursk und Brjansk Schutzmaßnahmen für das KKW.

Das ist geboten. Denn die Kämpfe sind seit der ukrainischen Invasion auf bis zu 25 Kilometer an die Atomanlage herangerückt, so der russische UN-Botschafter Michail Uljanow kürzlich im jW-Gespräch. Uljanow erklärte ferner, dass die russisch kontrollierten nuklearen Kraftwerke in Kursk und in Saporischschja unter regelmäßigem ukrainischen Beschuss sind. Einschläge in die Reaktoren konnten bislang seitens russischer Streitkräfte verhindert werden. Aber: Sollte eine der Anlagen mit Raketen getroffen werden, könnte dies »zu einer nuklearen Katastrophe wie in Tschernobyl führen«. Für Europa hätte dies unvorhersehbare und »katastrophale Auswirkungen«, fügte er hinzu.

Seit dem Februar 2022 ist die Frage der nuklearen Sicherheit in der Ukraine auch ein ständiges Thema bei der Atomenergiebehörde (IAEA) bei den Vereinten Nationen (UN) in Wien. Die Bedrohung durch den Krieg sieht auch die Organisation.

Auf der Pressekonferenz des Leitungsgremiums der IAEA, des Board of Governors, die vergangene Woche in Wien stattfand, berichtete IAEA-Generaldirektor Rafael Grossi, dass es bisher 23 ernsthafte Vorfälle in Saporischschja gegeben hätte, die von den Inspektoren der IAEA registriert und dokumentiert worden seien. Er sieht durch den Krieg die nukleare Sicherheit in Europa in Gefahr: »Ich könnte natürlich der Ukraine die rote Karte zeigen und Russland die gelbe«, antwortete er auf die Frage eines Journalisten.

Zentrales Thema bei der derzeit in Wien tagenden 68. IAEA-Generalkonferenz ist die Ukraine. Die zunehmenden Kämpfe in Kursk hätten die Lage zusätzlich verschärft, und die IAEA beobachte die weitere Entwicklung, sagte Grossi. Die Gefahr einer nuklearen Katastrophe im ukrainisch-russischen Kampfgebiet habe zudem Debatten über das iranische Atomprogramm überlagert.

In seiner Eröffnungsrede am Montag vormittag vor Tausenden Delegierten aller IAEA-Mitgliedsländer, aller Länder mit Beobachterstatus, wie Palästina, und alle nichtstaatlichen Organisationen, wie Interpol, ging Grossi detailliert auf die Situation in der ­Ukraine ein. Er berichtete, dass er Anfang September zum zehnten Mal in die Ukraine gereist sei und mit dem Präsidenten der Ukraine, Wolodimir Selenskij, »über die Stärkung der nuklearen Sicherheit im Land sprach«.

Für die IAEA bedeutet das – Grossi: »Unsere Hilfe ist gewachsen und angepasst worden. Beispielsweise verfolgen wir eine proaktivere Haltung bei der Überwachung der Umspannwerke der Ukraine, die für die Sicherheit der Atomkraftwerke von entscheidender Bedeutung sind.« Die IAEA ist seit 2022 kontinuierlich in den Atomanlagen der Ukraine präsent. Bisher seien 140 Missionen durchgeführt worden: »Experten der Agentur sind im Kernkraftwerk Saporischschja, ZNPP, im Einsatz, das an der Kriegsfront weiterhin im Kaltstillstand ist, sowie am Standort Tschernobyl und in den in Betrieb befindlichen Atomkraftwerken der Ukraine Riwne, Chmelnyzkyj und in der Südukraine«, erklärte Grossi.

Die Situation im ZNPP sei prekär. Es würde zu »regelmäßigen Explosionen, Drohnenangriffen, Schüssen und wiederholten Unterbrechungen der externen Stromversorgung« in dem von Russland kontrollierten Kraftwerk kommen. »Andere Herausforderungen erhöhen das Risiko eines Atomunfalls.« Eine Aussage, die zumindest indirekt auf die Ukraine als Aggressor hinweist. Im Verlauf seiner Rede richtete Grossi aber eine deutliche Warnung an Kiew: »Jegliche Angriffe, in welcher Form auch immer, auch auf nukleare Anlagen, sind völlig inakzeptabel.«

Abschließend bedankte er sich zwar bei den 30 Geberstaaten und der Europäischen Union »für ihre außerbudgetären Beiträge zur Unterstützung aller Aktivitäten im Zusammenhang mit der Ukraine«, betonte aber, dass der IAEA weiterhin 23 Millionen Euro für den Fortbestand ihrer Missionen zum Schutz der atomaren Anlagen in der Ukraine fehlen würden.

Am selben Tag warnte Russland die IAEA, dass Kiew die Mitarbeiter der Behörde als menschliche Schutzschilde benutzen könnte, um ukrainische Energieanlagen zu sabotieren, sagte Botschafter Uljanow gegenüber TASS. Aus diesem Grund fand auch ein Treffen im Rahmen der 68. IAEA-Konferenz zwischen dem Generaldirektor der Föderalen Agentur für Atomenergie Russlands (Rosatom), Alexeij Likhachew, und Grossi statt. Absolute Priorität hätte die Gewährleistung der Sicherheit nuklearer Anlagen, gab die russische Botschaft in Wien bekannt. Bekannt wurde auch, dass Russland und das IAEA-Sekretariat an der Sicherheitsfrage der KKW gemeinsam weiterarbeiten würden – trotz »akzentueller Unterschiede in den Positionen«.

Und nicht zuletzt warnte UN-Generalsekretär António Guterres in seiner Grußadresse, die von der Direktorin des UN-Hauptquartiers in Wien, Ghada Fadi Wali, vorgetragen wurde: »Solange der Krieg in der Ukraine weitergeht, ist die Gefahr eines nuklearen Vorfalls eine tägliche Wahrscheinlichkeit.« Ein Risiko, mit dem Kiew nach Ansicht der IAEA bewusst spielt.

IAEA

Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) ist eine der UN-Agenturen mit Sitz im Hauptquartier der Vereinten Nationen im transdanubischen Wien. Nachdem in den 1970er Jahren unter dem damaligen sozialdemokratischen Kanzler Bruno Kreisky ein neuer UN-Sitz in Wien errichtet wurde, siedelte sich die IAEA 1979 dort gemeinsam mit anderen UN-Agenturen an.

Ursprünglich wurde die IAEA 1957 als Reaktion auf die Entwicklungen gegründet, die durch die Entdeckungen und vielfältigen Einsatzmöglichkeiten der Nukleartechnologie ausgelöst wurden. Ausgangspunkt der Agentur war die Ansprache des US-Präsidenten Dwight Eisenhower »Atoms for Peace« vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 8. Dezember 1953. Die IAEA ist Expertin auf dem Gebiet nukleartechnologischer Forschung und Praxis, sowohl was ihre potentiell kriegerische als auch ihre friedliche Nutzung betrifft.

Nach der im September 1955 abgehaltenen ersten Genfer Atomkonferenz im Rahmen des Programms »Atoms for Peace« wurde die IAEA am 29. Juli 1957 unter dem Dach der Vereinten Nationen in New York gegründet. Von Anfang an wurde ihr das Mandat erteilt, mit ihren Mitgliedstaaten und Partnern weltweit zusammenzuarbeiten, um sichere, geschützte und friedliche Nukleartechnologien zu fördern. Die Ziele der doppelten Mission der IAEA – Förderung und Kontrolle des Atoms – sind in Artikel II der IAEA-Satzung definiert.

Im Oktober 1957 beschlossen die Delegierten der Ersten Generalkonferenz, den Hauptsitz der IAEA in Wien einzurichten. Die IAEA verfügt außerdem über zwei Regionalbüros in Toronto und Tokio sowie zwei Verbindungsbüros in New York und Genf. Die Agentur betreibt auf Nukleartechnologie spezialisierte Laboratorien in Wien und Seibersdorf, Österreich, die 1961 eröffnet wurden, und seit 1961 in Monaco.

Noch bis Freitag tagt die jährliche Generalkonferenz der IAEA zum 68. Mal. Es ist das höchste Gremium der IAEA. Daneben trifft sich vierteljährlich das Board of Governors in Wien. (dr)

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