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Aus: Ausgabe vom 18.09.2024, Seite 5 / Inland
Einkommenspolitik

Berlin, du Billiglohninsel

Gewerkschaft NGG fordert höheren Mindestlohn – Hunderttausende Beschäftigte würden profitieren
Von Oliver Rast
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Haben keinen Bock mehr, knapp oberhalb des Mindestlohns zu ackern: Die in der NGG organisierten Beschäftigten

Für die Bosse ist Berlin eine Oase, eine Billiglohnzone mit wenig Tarifbindung dazu. Ideal für die Abpressung des Mehrwerts Beschäftigter. In der Bundeshauptstadt ackern aktuell rund 114.600 Personen für den gesetzlichen Mindestlohn, teilte die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) Region Berlin-Brandenburg am Dienstag mit. Vollzeit für 12,41 Euro pro Arbeitsstunde. Ein Ergebnis einer Arbeitsmarktuntersuchung des Pestel-Instituts, die die Regio-NGG in Auftrag gegeben hatte.

Eine Erhöhung des Mindestlohns in Berlin bedeutet was? Etwa auf 14 Euro? »Davon würden enorm viele Menschen profitieren«, wurde der Leiter des Pestel-Instituts, Matthias Günther, in der NGG-Mitteilung zitiert. In der Stadt ginge der Lohn auf einen Schlag bei rund 281.300 Jobs hoch. »Es arbeiten zu viele zum Niedriglohn. Das muss sich ändern«, ergänzte der Geschäftsführer der NGG Berlin-Brandenburg, Sebastian Riesner. Ziel müsse es sein, die Jobs in Berlin aus dem Lohnkeller zu holen. Der Mindestlohn sei dabei nur die unterste Haltelinie. Und, so Riesner weiter: »Wirklich fair bezahlt wird nur, wer Tariflohn bekommt.« Die Erhöhung des Mindestlohns sei für die NGG zunächst aber »das Signal für mehr Lohngerechtigkeit«.

Der Vorwurf der Kapitalseite, Gewerkschafter würden »Lohnlotterie« betreiben, sei absurd. Es gehe um mehr, als die Existenz zu sichern. »Der gesetzliche Mindestlohn muss reichen, um davon bei einer Vollzeitarbeit vernünftig leben zu können. Vor allem ohne dabei auf Bürgergeld als staatliche Unterstützung angewiesen zu sein«, fordert Riesner. Wer nur den gesetzlichen Mindestlohn bekäme, müsse – immer auf einen Vollzeitjob bezogen – am Monatsende 60 Prozent des mittleren Einkommens der Lohn- und Gehaltsempfänger im EU-Durchschnitt erhalten. Mindestens, so sieht es das EU-Recht vor.

Steffen Kampeter interessiert das nicht. »Unser nationaler Referenzwert ist, völlig rechtmäßig, die Tariflohnentwicklung«, hatte kürzlich der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) gegenüber der FAZ gemeint. Wenn der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) die Mindestlohnkommission auffordere, die EU-Richtlinie durchzusetzen, verdrehe das Kabinettsmitglied der Ampelkoalition die Rechtslage und beschädige die Kommission, so Kampeter. Der Kapitalboss, der auch in der Mindestlohnkommission sitzt, verwies auf den Wortlaut der EU-Richtlinie. Demnach legen die Mitgliedstaaten »bei ihrer Bewertung der Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne Referenzwerte zugrunde«. Dazu könnten sie Referenzwerte wie dieses 60-Prozent-Kriterium heranziehen »und/oder Referenzwerte, die auf nationaler Ebene verwendet werden«.

Davon unabhängig, wie geht es weiter? Ab Januar wird der Mindestlohn um lediglich 41 Cent auf nur 12,82 Euro steigen. Das hat die Mindestlohnkommission gegen die Stimmen der Gewerkschaften bereits im Sommer 2023 beschlossen. Das reicht der NGG nicht. Weil: Nach Berechnungen des Pestel-Instituts würde ein Anstieg des Mindestlohns auf 15 Euro pro Stunde rund 376.100 Beschäftigten in Berlin »zum Teil deutlich vollere Lohntüten bescheren«, weiß Günther. Ein Beitrag, die kapitale Oase trockenzulegen. Etwas zumindest.

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