Jubel für Staatsterrorismus
Von Philip TassevMan stelle sich einmal folgendes Szenario vor: Die ukrainische Asow-Brigade bestellt für ihre mittlere Führungsebene abhörsichere Pager von einem taiwanesischen Hersteller. Das Unternehmen leitet den Auftrag an eine vom russischen Auslandsgeheimdienst gegründete Briefkastenfirma um. Die Pager werden mit ein paar Gramm Sprengstoff bestückt und anschließend ausgeliefert, um Monate später per Funksignal ferngezündet zu werden. Auf öffentlichen Plätzen, in Straßen, Supermärkten und Krankenhäusern in Kiew oder Lwiw explodieren die Dinger ohne Vorwarnung, töten ein Dutzend Menschen und verletzen Tausende. Das Geheul der deutschen Mainstreammedien wäre gewaltig, Kriegsverbrechen, Massenmord und Terrorismus noch die geringsten Vorwürfe.
Anders verhält es sich, wenn Kriegsverbrechen und Staatsterrorismus von einem Vorposten des »Westens«, in diesem Fall Israel, verübt werden. Dann ist dem Mossad der Beifall aus der Bundesrepublik gewiss. Die fast zeitgleiche Explosion von Hunderten oder sogar Tausenden manipulierten Pagern am Dienstag im Libanon und Berichten zufolge auch in Syrien quittierten deutsche Fans der ultrarechten israelischen Regierung in den sozialen Medien mit Hohn, Spott und menschenverachtender Genugtuung.
Ulf Poschardt von Springers Welt bejubelte die Attentatswelle, bei der nach libanesischen Angaben auch ein 8jähriges Mädchen und ein 11jähriger Junge getötet wurden, als »Next Level Terrorbekämpfung«. Jan Fleischhauer vom Focus kommentierte: »Statt ›Blow out the Brains‹ ›Blow of the Balls‹. Die armen Kerle können jetzt nur beten, dass die Jungfrauen im Himmel, die dort angeblich auf sie warten, über diesen kleinen Verlust hinwegsehen«. Der Wirtschaftswissenschaftler Jan Schnellenbach verteidigte den »gezielten Geniestreich« gegen Vorwürfe, die Angriffe würden die Eskalation des Krieges weiter vorantreiben. Julian Reichelt, früher auch bei Springer, heute mit dem eigenen Portal Nius, postete Bilder von blutüberströmten Menschen und witzelte: »Motorola Beeper officially renamed Motorola Boomer«. Ähnlich schlecht der »Scherz« seines Kollegen Ralf Schuler (ebenfalls einst bei Bild): »Bumm Bumm statt Piep Piep Piep«. Auch der ehemalige Berliner AfD-Vorsitzende und Bundeswehroberst a. D. Georg Pazderski freute sich: »Bravo! Terroristen erfahren Terroristendinge, die sie sonst Unschuldigen antun!« Der seit 2022 auf zahllosen Podien und in TV-Studios als NATO-Gebetsmühle in Erscheinung getretene Professor an der Münchner Bundeswehr-Universität Carlo Masala höhnte: »Nasrallah schmeißt gerade seinen Pager weg.«
Nicht ganz so plump, aber nicht weniger apologetisch äußerte sich das Mitglied der CDU und Senior Fellow der Münchner »Sicherheitskonferenz« Nico Lange im WDR: »Wenn man dann so ein Instrument findet und die Operation auch gelingen kann, hat man eine Möglichkeit gefunden, mit möglichst wenig Kollateralschäden Terroristen unschädlich zu machen«.
Kritik an diesen Ausbrüchen blieb am Mittwoch verhalten. Der Chefredakteur der auf Westasien und Nordafrika spezialisierten Zeitschrift Zenith, Daniel Gerlach, bezeichnete im Gespräch mit dem Deutschlandfunk die hämischen Kommentare aus der deutschen NATO-Blase als »unangebracht«.
Die deutsche Regierung wollte am Mittwoch keine Bewertung der Anschläge vornehmen. Es lägen »keine eigenen Erkenntnisse« vor, »um eine entsprechende Einordnung, auch eine völkerrechtliche Einordnung vornehmen zu können«, so eine Sprecherin des Auswärtigen Amts. Eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums sagte, für Besitzer der Pager in Deutschland bestehe keine Gefahr, »sofern es nicht ein Direktimport aus dem Libanon ist«.
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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