Die Zeit meines Lebens
Von Michael SommerVielleicht ist es hilfreich, gleich zu Beginn mit einem Missverständnis aufzuräumen: Dieses Buch ist keines für Historiker. Es nimmt vielmehr in der Fülle aktueller Sachbuchliteratur zur DDR bzw. zum »Osten« und seinen Bewohnern (Oschmann, Hoyer oder auch Gröschner/Mädler/Seemann) eine Sonderstellung ein. Aber wie lässt sich eigentlich das Bild einer Gesellschaft am nachvollziehbarsten zeichnen? Über wirtschaftliche Kennzahlen, historische Daten oder als »Oral History«, als Summe persönlicher Erfahrungen derer, die diese Gesellschaft erlebt haben? Dieses Buch geht letzteren Weg.
Das ist ein lohnendes Unterfangen, gewinnt man doch beim Gang durch verschiedene Ausstellungen über die DDR teilweise den Eindruck, dass deren Bürger eher Objekte der Zeitgeschichte waren denn Subjekte, die es möglicherweise doch einmal vorhatten, das Eigentum an den Produktionsmitteln und damit ihr Geschick in die eigenen Hände zu nehmen.
Nach »Die anderen Leben« (Bebra-Verlag 2020) ist dieser Band der zweite von Sabine Michel und Dörte Grimm mit Generationengesprächen. Beide sind auch als Dokumentarfilmerinnen aktiv. Michel porträtierte 2023 in »Frauen in Landschaften« unter anderem Manuela Schwesig und Frauke Petry, für ihr filmisches Porträt der krebskranken Fotografin Sibylle Bergemann erhielt sie 2012 den Grimme-Publikumspreis. Dörte Grimm ist Publizistin und Ethnologin, sie brachte 2015 den Film »Die Unberatenen. Ein Wendekinderportrait« heraus und ist Autorin mehrerer Kinderbücher.
Bemühte sich der erste Band, Eltern und Kinder über die DDR ins Gespräch zu bringen, sind es nun die Großeltern und ihre Enkel. Dieser Sprung über eine Generation hinweg bewirkt nicht ganz unerwartet, dass die Großelterngeneration sehr viel über die Kriegs- und Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges, und die Enkel vor allem über die Zeit nach der sogenannten Wende, also nach dem Ende der DDR, reden.
Es ist ein großes Verdienst der beiden Autorinnen, diese Generationengespräche – teilweise über tiefe Gräben und jahrelanges Schweigen hinweg – angeschoben zu haben.
Die Autorinnen sahen sich dabei lediglich als Initiatorinnen und haben sich nicht – und wenn nur begleitend – in die Unterhaltungen eingemischt. Einige Aussagen hätten jedoch, wenn schon nicht einer tieferen Betrachtung, so doch wenigstens einer Nachfrage bedurft. Und das nicht nur bei dem einige Male auftauchenden Begriff von der DDR als »Diktatur«. Aber offenbar hatten die Autorinnen nicht vor, auftauchende Widersprüche über die verschiedenen Gesprächssituationen hinweg aufzulösen.
So berichtet Elisabeth (geboren 1944, die Namen sind an allen Stellen geändert) davon, dass ihr Vater 1946 offenbar wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft verhaftet und ins Speziallager Nr. 2 in Buchenwald gebracht wurde, das unter Befehl der sowjetischen Besatzungsmacht stand. Dort waren nach Ende des Zweiten Weltkrieges Nazikollaborateure und Mitglieder der faschistischen Führung inhaftiert – viele wegen schwerer Kriegsverbrechen – andere sicher auch als »einfache« Mitläufer.
In einem anderen Gespräch fragt Enkel Niklas seinen Großvater, ob denn nicht viele dieser Mitläufer nach dem Krieg bestraft worden seien, und sein Großvater antwortet: »Gegen die großen Kriegsverbrecher gab es Prozesse, aber die vielen kleinen Mitläufer blieben unter dem Radar.«
An einer anderen Stelle ist von latentem Antisemitismus in der DDR die Rede und von extrem rechten Tendenzen in der späten DDR.
Da ist die Geschichte von Marlene (Jahrgang 1936) und ihrem Enkel Sebastian (Jahrgang 1988). Marlene lernt 1962 als junge Studentin den Gaststudenten Eduard aus Douala in Kamerun kennen und bekommt ein Kind von ihm, Annegret. Im Gespräch der beiden dreht sich dann vieles darum, ob und wie stark das dunkelhäutige Mädchen in der DDR Rassismus erfahren hat. Marlene bestreitet, dass es über erstaunte oder auch befremdliche Blicke hinausgegangen sei. Dann nach der »Wende« die brennenden Ausländerheime: Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda. Der latent im Raum stehende – und auch von anderen Stellen immer wieder erhobene – Vorwurf des Enkels, diese Ereignisse seien eine späte Folge der DDR-Politik, wird auch an dieser Stelle nicht ausgeräumt.
Die bewusste Weigerung, in die Gespräche einzugreifen, wird an anderer Stelle jedoch konterkariert, wenn sich beispielsweise Sabine Michel mit einem nachträglich eingefügten Kommentar in ein Gespräch »einschaltet«: »Es ist eine Weile ruhig. So viel Trennung und Schmerz durch eine Mauer, die 28 Jahre Menschen brutal dran hinderte, sich frei zu bewegen und zusammen zu sein. Das Land DDR, das unter der Fahne des Antifaschismus aufgebaut wurde, konnte ohne tödliche Grenze nicht überleben.« (S. 51). Dieser Art nachträglicher Betonung des zuvor Gesagten hätte es nicht bedurft. Dass Teilung und Grenzziehung im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges und der Blockbildung geradezu unausweichlich waren, bleibt unerwähnt.
Auffällig ist die Häufung von Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern mit kirchlichem Hintergrund. Das mag Zufall sein, bietet aber auch genügend Anlass, über die DDR-kritische Bewegung vor allem in Kirchenkreisen zu reden. Das Wort »Diktatur« fällt häufig. So bekennt Rudolf (Jahrgang 1949): »Ja, ich habe seit 1961, seit dem Mauerbau, in einer Diktatur gelebt. Ulbricht war viel, Honecker war alles. Du konntest nichts machen, ohne dass du Marxismus-Leninismus belegt hast – bis zur Promotion.« Er hat dann über den Umweg eines dreijährigen Wehrdienstes die Zulassung zum Medizinstudium erlangt.
Erstaunlich ist, dass die Meinungen über das Leben in der DDR auch unter Paaren auseinandergehen. So bekennt Ulla (Jahrgang 1953), Rudolfs Partnerin: »Ich hatte nie Angst, dass ich vielleicht keine entsprechende Arbeit bekomme und keine Rente. Ich habe auch unsere drei Kinder ohne soziale Not bekommen, ich wusste, hinterher bekomme ich meine Arbeitsstelle wieder. Also das war toll, besser als heute.« Was ihren Mann wiederum dazu veranlasst, davor zu warnen, dass die DDR verherrlicht würde. Die Generation der Enkel – und das kommt in mehreren Gesprächen zum Ausdruck – treiben derweil eher die Sorgen um die Zukunft, insbesondere um die Umwelt, um.
Neben den üblichen Themen, die bei der Erinnerung an die DDR zur Sprache kommen – »Stasi«, Umweltverschmutzung durch die Braunkohleförderung, die verminderten Chancen für jene, die nicht Parteimitglieder waren oder Pioniere werden wollten – gibt es auch Gesprächspartnerinnen und -partnern, die dem eher negativen Bild von der DDR widersprechen: Ulla (Jahrgang 1953, nicht identisch mit der oben genannten), die ihr ganzes Arbeitsleben in der Landwirtschaft verbracht hat, bekennt: »DDR? Das war die beste Zeit meines Lebens«, zeigt ihre Urkunden für besondere Leistungen und berichtet von Urlauben im sozialistischen Ausland. Das mit dem Trinken habe bei ihr erst nach 1990 angefangen, trotz des sicherlich latenten Alkoholismus in der DDR. Ullas Geschichte ist vielleicht die bewegendste im Buch. Neben den großen gesellschaftlichen Themen sind es eben auch die ganz persönlichen Berichte, die das Buch prägen.
Den gemachten Erfahrungen ist schwerlich zu widersprechen. Einigen Ansichten schon. Bleibt die Frage, inwieweit den ausgewählten Gesprächspartnerinnen und -partnern eine Repräsentanz für das Zeichnen eines abgerundeten Bildes über die DDR zuzusprechen ist. Gab es nicht doch ein ganz normales Leben – jenseits von »Diktatur« und »Stasi«?
Empirisch zu beweisen wäre jedenfalls die steile These aus dem Vorspann des Buches, dass sich »die wirtschaftliche Situation der meisten Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung mehr als verbesserte«. Zumindest für die unmittelbare Zeit nach der »Wende« dürfte dies angesichts rasant steigender Arbeitslosenzahlen nicht zugetroffen haben. Diese Aussage ist um so erstaunlicher, als ja in den Gesprächen durchaus zum Ausdruck kommt, dass die Zeit nach der »Wende« für viele einen tiefen Einbruch dargestellte. Dass sich der allgemeine Wohlstand rund 30 Jahre nach dem Ende der DDR gehoben hat, ist nicht zu bestreiten – eher stellt sich die Frage, wem dieser Wohlstand zugute kommt und wem nicht.
Dem unbekannten Wesen Ostdeutscher kommen wir trotzdem wieder mal ein Stück näher. Reden ist Gold.
Sabine Michel/Dörte Grimm: Es ist einmal. Ostdeutsche Großeltern und ihre Enkel im Gespräch. Mit Fotografien von Ina Schoenenburg (Ostkreuz). Bebra-Verlag, Berlin 2024, 200 Seiten, 20 Euro
»75 Jahre DDR. Was bleibt?« Festveranstaltung zum Jahrestag. Unter anderem mit Beiträgen von Egon Krenz und Martin Küpper sowie einem Podiumsgespräch mit der Autorin Dörte Grimm, der Liedermacherin Linda Gundermann und der Schauspielerin Jennipher Antoni.
Sonnabend, 5. Oktober 2024, 19 Uhr; Kino Babylon, Berlin, Eintritt: 15 Euro, ermäßigt 10 Euro
Tickets im junge Welt-Laden, Torstr. 6, 10119 Berlin, Öffnungszeiten: Mittwoch bis Freitag; 13 bis 18 Uhr, unter www.jungewelt-shop.de oder unter 0 30/53 63 55-37
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