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Aus: Ausgabe vom 20.09.2024, Seite 8 / Ausland
Migranten in Libyen

»Der Kreislauf von Folter und Erpressung wiederholt sich«

Dokumentarfilm zeigt die Situation von in Libyen gefangenen Geflüchteten. Ein Gespräch mit Michelangelo Severgnini
Interview: Carmela Negrete
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Tausende Flüchtlinge aus dem Afrika südlich der Sahara hängen in Libyen fest (Tripolis, 20.10.2022)

Ihr Dokumentarfilm »Der Schrei« beschäftigt sich mit der Lage von Migranten in Libyen. Wie kamen Sie dazu?

Im Sommer 2018, vor etwa sechs Jahren, habe ich eine Möglichkeit gefunden, über Social Media direkt mit Personen in Libyen in Kontakt zu treten. Auf diese Weise halte ich weiterhin Kontakt zu Menschen dort. Ich habe festgestellt, dass vieles anders ist, als man es hier in Europa hört. Zum Beispiel befinden sich die Haftzentren für Geflüchtete nur in Tripolis und Umgebung, nicht im ganzen Land. In Tripolis gibt es eine Regierung, die von der EU als legitim betrachtet wird, aber das ist sie eigentlich nicht. 2014 gab es Wahlen in Libyen, aber das gewählte Parlament konnte aufgrund der Milizen nie in Tripolis zusammentreten und wurde in Bengasi eingerichtet. Trotzdem unterstützt die EU weiterhin die Regierung in Tripolis, weil das eine Möglichkeit ist, die Milizen zu schützen.

Warum werden diese Milizen denn unterstützt? Welche Rolle spielen sie?

Die Milizen stehlen bis zu 40 Prozent des libyschen Öls und verkaufen es illegal über die maltesischen oder sizilianischen Mafias. Das Öl gelangt nach Sizilien und in die Türkei. Dies wurde sogar vom Direktor der staatlichen libyschen Ölgesellschaft bestätigt. Der Rohstoff wird illegal verkauft, aber das Geld kommt nicht in Libyen an, die Milizen behalten es. Es ist billiger, daher profitieren Länder wie Italien, die Türkei und Griechenland davon. So unterstützen sie die Milizen, die nur 20 Prozent des Landes kontrollieren, hauptsächlich Tripolis und seine Umgebung. Diese Milizen nutzen die Migranten als Zwangsarbeiter oder foltern sie, um Lösegeld von ihren Familien zu erpressen. In den vergangenen zehn Jahren haben die Milizen Netzwerke mit afrikanischen Mafias in verschiedenen Ländern aufgebaut. Diese kriminellen Gruppen überzeugen junge Menschen, nach Libyen zu reisen, oft mit dem Versprechen, dass es leicht sei, nach Europa zu gelangen.

Nun ist es ja kein Geheimnis, was in Libyen los ist. Weshalb gehen weiterhin Afrikaner dorthin?

Obwohl sie wissen, dass die Lage in Libyen gefährlich ist, gibt es immer jemanden, der ihnen sagt, er kenne die richtige Person, andere seien bereits in Europa. Sie sind oft sehr jung und verstehen die Komplexität der Situation nicht. Die meisten sind zwischen 15 und 23 Jahre alt. Manche von ihnen sitzen seit sieben oder acht Jahren in Libyen fest, ohne nach Europa oder in ihre Heimatländer zurückkehren zu können. In Tripolis werden diese Menschen wie Sklaven behandelt. Wenn sie gefoltert werden, verlangen ihre Peiniger von ihren Familien 4.000 Euro für ihre Freilassung. In den vergangenen zwei Jahren hat die libysche Armee die Grenze zu Niger geschlossen. Diejenigen, die nach Europa gelangen wollen, versuchen das jetzt über Algerien oder Tunesien. Aber viele Migranten, die seit Jahren in Tripolis leben, sind gefangen. Man lässt sie nicht gehen. Die Milizen brauchen sie als kostenlose Arbeitskräfte und um Geld von ihren Familien zu erpressen. Der Kreislauf von Folter und Erpressung wiederholt sich ständig.

Ihr Film hat auch den Ärger einiger europäischer NGOs hervorgerufen.

Die Vorführung auf dem »Festival für Menschenrechte« in Neapel wurde von italienischen NGOs nach 20 Minuten unterbrochen, weil im Film erwähnt wird, dass die NGOs Teil des Menschenhandelssystems seien. Ein Migrant in Libyen sagte, die Europäer würden sie ins Meer drängen, um ihr Leben zu riskieren, obwohl viele von ihnen nur nach Hause zurückkehren wollen. Ich verstehe die Verärgerung, aber die Migranten in Libyen haben das Gefühl, dass die NGOs sie dazu drängen, die Überfahrt zu versuchen. Obwohl die meisten bereits verstanden haben, dass sie niemals nach Europa gelangen werden. Was kann ich anderes sagen als das, was die Migranten aus Libyen selbst sagen? Ich kann ihre Aussagen nicht ignorieren. Ich zeige nur, was die Migranten sagen. Es ist nicht meine Meinung. Aber ich verstehe die Kontroverse.

Michelangelo Severgnini ist ein italienischer Dokumentarfilmer. Im September zeigte er seinen Film »Der Schrei« über die Mafias und den Menschenhandel in Libyen im Kino »Moviemento« in Berlin

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