Liberale Notlage
Von Nico PoppSelbstverständlich ist es ein durchschaubares Manöver, wenn der CDU-Innenminister Brandenburgs ein paar Tage vor einer Wahl, bei der die AfD zu enteilen droht, einen Knallfrosch zündet und das individuelle Recht auf Asyl zur Disposition stellt. Allerdings lohnt es sich, einmal die Frage zu stellen, ob es hier noch einen anderen Zusammenhang gibt, der sich dort abzeichnet, wo für Michael Stübgen »das Machbare« beginnt. Es ist jedenfalls auffällig, dass die von der Ampel betriebene Aufrüstung an den Grenzen und die von Stübgen befeuerte Debatte über die Feststellung einer »nationalen Notlage« in einem direkten zeitlichen Zusammenhang stehen mit der Zuspitzung im Nahen Osten.
Längst dürfte etwa in der Innenministerkonferenz, deren Vorsitzender Stübgen ist, im kleinen Kreis darüber diskutiert worden sein, welche Lage sich an den deutschen Grenzen entwickeln würde, wenn die israelische Kriegsmaschine im Libanon und dann vielleicht auch noch im Iran zuschlägt: Kommt der große Krieg im Nahen Osten, werden sich Millionen Menschen aus den verheerten Zonen auf den Weg nach Europa machen.
Zwei Bemerkungen lassen in diesem Zusammenhang aufhorchen. Stübgen hat die Außenministerin aufgefordert, »etwas mehr mit unseren Nachbarländern« darüber zu reden, »wie damit umgegangen wird, wenn wir eine Notlage erklären«. Und er hat verlangt, diplomatische Beziehungen mit Damaskus aufzunehmen. Natürlich geht es dabei zunächst darum, Menschen wieder loszuwerden, die schon hier sind. Aber eine deutsche Botschaft in Syrien eröffnet auch eine sehr wesentliche Einwirkungsmöglichkeit, wenn sich – womöglich schon im Winter oder im nächsten Frühjahr – erneut Massen von Kriegsflüchtlingen in Bewegung setzen.
Die von Ampel und Union eingeleitete Neuausrichtung der Migrationspolitik wird also falsch verstanden, wenn sie allein als Manöver zur Einhegung des Wachstums der AfD vor dem Hintergrund der drei ostdeutschen Landtagswahlen und der bevorstehenden Bundestagswahl gedeutet wird. Hier geht es um konkretes Staatshandeln, und das unterliegt komplexeren Bewegungsgesetzen. Recht deutlich zeichnet sich inzwischen ab, dass der nächste große Zustrom von Geflüchteten vom Staat nicht – wie 2015 – mit »Wir schaffen das«-Parolen, sondern mit der Erklärung einer »Notlage« begrüßt werden wird.
Dabei kommen zwei Momente zusammen. Der liberale Parteienblock versucht, seine bröckelnde Hegemonie zu stabilisieren, und die staatliche Steuerung von Migration orientiert in einer Zeit der krisenhaften Stagnation eben nicht mehr in erster Linie auf Zuwanderung in den Arbeitsmarkt. Gut möglich also, dass sich binnen Jahresfrist viele Linksliberale die Augen reiben, weil schon die Ampelregierung – bevor dann die Union übernimmt – ein Grenzregime installiert, das ausschaut, als regiere die AfD mit. Eine Einsicht für die kommenden Jahre: Für solche und noch viel größere Schweinereien braucht es diese Partei gar nicht.
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