Die Ordnung des Zufalls
Von Alexander KasbohmDie in Mexiko-Stadt lebende guatemaltekische Cellistin Mabe Fratti veröffentlicht seit einigen Jahren experimentelle Alben, auf denen sie Grenzbereiche menschlicher und musikalischer Existenz auslotet. »Sentir Que No Sabes« ist ihr spielerisch-abenteuerlustigstes Album bislang, gleichzeitig trägt es die stärksten Popstrukturen. Es beginnt mit dem Track »Kravitz« – ein dröhnendes, groovy Bassmotiv, klimperndes Piano, Bläser in Flächen und unerwartete funky Akzente. Ist der Titel eine Anspielung an Lenny? (Macht der eigentlich noch Musik? Und: Wenn ja, warum?) Man könnte eine stark abstrahierte Variante von Kravitz’ Retro-Psychedelic-Soul darin erkennen. Oder eben auch nicht. Diese Vagheit zieht sich durchs ganze Album, nicht bloß durch die Titel. Etwa »Elastica I & II«: Geht es um die Band gleichen Namens? Um Elastizität in Klang und/oder Materie? Die Vagheit betrifft ebenso die Musik. Vermutlich auch die Texte, aber leider sind mir spanische Wörter weitgehend böhmische Dörfer. Ich stelle mir eine Untersuchung dieser Ebene durchaus interessant vor.
Einer der vielen Reize der Platte liegt also in dieser Unbestimmtheit, in der Gleichzeitigkeit mehrerer möglicher Zustände, die sich am selben Ort phantomartig überlagern, sich nicht auf nur eine Bedeutung festlegen lassen. »Sentir Que No Sabes« hat ein desorientierendes Moment, man weiß nie so genau, in welche Richtung man sich eigentlich bewegt. Was die aktuelle Lage von Gesellschaften sehr gut widerspiegelt. Tumult und friedliche Ruhe folgen aufeinander, weben sich ineinander. Sounds werden gesammelt, zerlegt, verdreht und wieder zusammengesetzt. Viele Elemente scheinen der Improvisation oder dem Zufall geschuldet. Dem zufälligen Zufall oder dem herbeigeführten Zufall, der unterbewussten Ordnung von Zufällen.
Die Freude an der spielerischen Entdeckung erinnert bisweilen an die in Berlin lebende Kolumbianerin Lucrecia Dalt und ihren elektronischen Experimentalpop. Beide haben eine ähnliche Grundstimmung, die in der lateinamerikanischen Kultur wurzelt. Weniger in konkreten Melodien und Rhythmen als in einer spezifischen Art, sehnende Gefühle in die musikalische Sprache zu übersetzen. Vielfach wird auch Arthur Russell als Referenzpunkt genannt, was ich allerdings für abwegig halte. Eher vielleicht noch eine diesseitigere Kate Bush, die nicht das Experiment in den Pop bringt, sondern den Pop ins Experiment.
»Sentir Que No Sabes« ist eine der zugleich schönsten als auch interessantesten Platten des Jahres, auf ähnliche Weise wie vorletztes Jahr Lucrecia Dalts »¡Ay!«. Ein Avantgardepopalbum zwischen Schönklang und Missklang, zwischen Harmonie und Disharmonie, zwischen Aufruhr und Beruhigung, auf dem die Soundverweise wild durcheinanderpurzeln, was ein Gefühl wohliger Verwirrung zurücklässt.
Mabe Fratti: »Sentir Que No Sabes« (Unheard of Hope/Alive)
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