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Aus: Ausgabe vom 20.09.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Systemische Mängel

Drei Jahre an einer Wiener Volksschule verbrachte Regisseurin Ruth Beckermann für ihren klugen Dokumentarfilm »Favoriten«
Von Holger Römers
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Favoriten sind sie eher nicht, die Kinder der Grundschulklasse im Film

Dass Ruth Beckermanns neuer Dokumentarfilm »Favoriten« heißt, ist vordergründig mit dem gleichnamigen Wiener Stadtteil zu erklären, in dessen Volksschule die 1952 geborene Österreicherin drei Jahre regelmäßig gedreht hat. Doch in dem knappen Titel schwingt untergründig auch bittere Ironie mit, denn unter den Kindern der Grundschulklasse, die hier im Zentrum steht, ist gewiss niemand von sozialen Umständen favorisiert.

Dass die Schüler aus Arbeiterfamilien stammen, erfahren wir früh aus den Antworten, die sie auf die Frage ihrer Klassenlehrerin nach den jeweiligen Berufen der Eltern geben: Die Väter schuften auf dem Bau, fahren Taxi oder backen Pizza; die Mütter sind, sofern ihr Tätigkeitsgebiet nicht auf Haushalt und Familie begrenzt ist, Putzfrau oder Krankenpflegerin. Da fehlen selbstverständlich die ökonomischen Mittel, um dem eigenen Nachwuchs privat eine individuelle Förderung zu verschaffen. Gerade die hier auftretenden Kinder hätten freilich eine gezielte Nachhilfe nötig, weil unüberhörbare Probleme mit der Aussprache und der Grammatik ahnen lassen, dass in der porträtierten Klasse niemand Deutsch als Muttersprache hat.

Entsprechend groß ist die Verantwortung des öffentlichen Schulsystems gegenüber diesen Kindern. Und entsprechend fatal ist die Mangelverwaltung, die uns Beckermann bewusst macht, indem sie ihre heimliche Hauptfigur, die Klassenlehrerin Ilkay Idiskut, gelegentlich hinter den Kulissen des Schulbetriebes zeigt. Zu Beginn des Schuljahres erwähnt der Direktor in seiner Begrüßungsansprache vor dem Lehrerkollegium, dass eine frei gewordene Sozialarbeiterstelle nicht neu besetzt worden sei. Später teilt er Idiskut mit, dass nicht einmal ein soeben eingewandertes Mädchen, das keinerlei nennenswerte Deutschkenntnisse besitzt, eine zusätzliche Sprachförderung erhalten könne.

Wenn wir die Kinder ausnahmsweise abseits des Schulgeländes sehen, befinden sie sich auf Exkursionen in der Stadt. Dabei scheinen sie Wiens berühmtestes Bauwerk mehrheitlich mit Gleichmut wahrzunehmen: Bei einer Führung durch den Stephansdom muss Idiskut jedenfalls gegenüber dem Pfarrer verlegen einräumen, dass in ihrer Klasse niemand katholisch sei. Beim Besuch einer Moschee drängeln sich dagegen prompt ein Mädchen und ein Junge vor, um – mit stolzem Verweis auf einen Imam innerhalb der jeweiligen Familie – die islamischen Gebetsvorschriften zu erklären. Einen ähnlichen Eifer versprühen die Kinder allerdings auch, als Beckermann sie dazu animiert, sich im Filmemachen zu versuchen und mit Smartphones eigene Videos zu drehen.

Angesichts dieser Beispiele kindlicher Begeisterungsfähigkeit erscheint es um so lobenswerter, dass Idiskut sichtlich bemüht ist, die systemischen Mängel ihres Berufs zu kompensieren. Allerdings führt die Fokussierung auf eine ebenso vorbildliche wie außergewöhnliche Lehrerfigur wie schon bei Maria Speths thematisch verwandtem Film »Herr Bachmann und seine Klasse« (2021) in einen Zwiespalt. Auch in dieser faszinierenden Langzeitbeobachtung zeichnet sich ab, dass einzelne Kinder trotz der engagierten Pädagogik durchs Raster fallen. So führt uns eine Großaufnahme unerbittlich vor Augen, wie ein Mädchen immer wieder an einer simplen mathematischen Frage scheitert, bis Idiskut ihre Geduld verliert.

Dass diese Frau sonst mit ruhiger Bestimmtheit und bodenständiger Sensibilität einem Idealtypus einer Grundschullehrerin nahekommt, mag indes dazu verleiten, sich – ganz liberal-idealistisch – das Unmögliche zu wünschen: dass sie nämlich noch gewissenhafter auf jede einzelne Schwierigkeit ihrer Zöglinge eingehen könnte. Und dass mit einer derart selbstoptimierten Pädagogin, wenn sie denn beispielgebend für ihren Berufsstand wäre, unser Schulsystem so, wie es ist, funktionieren könnte. Statt dessen sollte sich freilich spätestens aus der am Schluss des Films angedeuteten geringen Zahl an Gymnasialempfehlungen, die Schüler aus Idiskuts Klasse erhalten, die nüchterne Einsicht ergeben, dass auch die beste Lehrerin unter den gegebenen Verhältnissen keinem Kind gerecht wird.

»Favoriten«, Regie: Ruth Beckermann, Österreich 2024, 118 Min., bereits angelaufen

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