Masse und Macht
Von Ingar SoltyAls Mensch soll er fürchterlich gewesen sein. Es heißt, der Professor für Philosophie an der Universität Chicago beliebte es, sein Rauchwerkzeug vom Tisch fallen zu lassen, um den Untertanengeist und die Loyalität seiner Doktoranden auf die Probe zu stellen, die aufgefordert waren, es für ihn aufzuheben. Auch sein Werk ist von Kopf bis Fuß auf Massenverachtung eingestellt. Zugleich war der Liberalismuskritiker Leo Strauss auch einer der klügsten Feinde von Gleichheit, Freiheit und Demokratie. Seine Kritik des Liberalismus und dessen erkenntnistheoretische Grundlagen beziehungsweise Mängel trug er mit Messers Schärfe vor. Nicht zuletzt deshalb erwarb sich Strauss Hochachtung von der anderen, der sozialistischen Seite des politischen Spektrums, von Walter Benjamin und auch von Gerschom Scholem.
Strauss wurde am 20. September vor 125 Jahren im mittelhessischen Kirchhain bei Marburg in eine jüdisch-orthodoxe Familie hineingeboren. Nach einem Studium der Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften unternahm er eine Promotion bei dem Neukantianer Ernst Cassirer. Vom Antisemitismus aus Deutschland vertrieben, erlangte Strauss Berühmtheit als Säulenheiliger des amerikanischen (Ultra-)Konservatismus, der alsbald seine neue Heimat vor der zersetzenden Wirkung des deutschen Geistes, vor Kant und Hegel warnte.
Strauss’ Denken ist aufs engste mit einer Denkbewegung gegen die Moderne verknüpft, die heute als »Konservative Revolution« bezeichnet wird und zu der neben dem Rechtswissenschaftler Carl Schmitt im weiteren Sinne auch der Philosoph Martin Heidegger gezählt werden kann. Die Verarbeitung der Tatsache, dass ihre maßgeblichen Denker rabiate Antisemiten waren, die den deutschen Faschismus vorbereiteten und nach der Machtübertragung an Hitler die Judenverfolgungen in ihren Schriften rechtfertigten, prägten Strauss’ Werk. Es ist der Versuch, den antidemokratischen, autoritären Geist der Rechten, der Faschismus, Weltkrieg und Holocaust den Weg ebnete, aus Deutschland in die USA zu verpflanzen.
Hobbes
Das, was er machte, nannte Strauss »politische Philosophie«. Deren Ausgangspunkt sei die Erkenntnis: »Alles politische Handeln verfolgt als Ziel entweder Bewahrung oder Veränderung.« Das Bedürfnis, etwas zu bewahren, entspringe dem »Wunsch, eine Veränderung zum Schlechten zu verhindern«, das Bedürfnis, etwas zu verändern, dem »Wunsch, etwas Besseres herbeizuführen«. Damit sei aber auch »alles politische Handeln angeleitet von einer Vorstellung von besser und schlechter«, dem der Gedanke des »guten Lebens oder der guten Gesellschaft« zugrunde liege. Das Attribut »politisch« verweise auf »den Gegenstand und die Funktion« der politischen Philosophie. Ihr Thema seien »die großen Ziele der Menschheit: Freiheit und Regierung oder Imperium – Ziele, die in der Lage sind, alle Menschen aus ihrer armseligen Existenz« zu heben.
Der Begriff der »armseligen Existenz« ist nicht zufällig gewählt. Er verweist auf Thomas Hobbes und dessen berühmte Formel vom Leben, das ohne den allmächtigen Staat »solitary, poor, nasty, brutish and short« sei, weil der Mensch dem Menschen im Naturzustand ein Wolf sei. Der englische Philosoph markiert den eigentlichen Ausgangspunkt von Strauss’ Denkbewegung. Auch werkbiographisch steht die Auseinandersetzung mit Hobbes am Anfang. Seine erste große, noch auf deutsch geschriebene und 1936 in Oxford publizierte Monographie heißt »The Political Philosophy of Hobbes«.
Von Hobbes übernimmt Strauss die negative Anthropologie, die er zugleich als den Schlüssel zu seinem Werk identifiziert. Es geht Strauss darum, Hobbes’ Menschenbild nicht – wie dies Vertreter des historischen Materialisten täten – als theoretischen Ausdruck seiner Bürgerkriegserfahrungen zu werten. Hobbes soll, das ist Strauss’ Anliegen, nicht historisiert werden, sondern seine negative Anthropologie soll vielmehr Ausdruck eines tiefen Gespürs für die Schlechtigkeit des Menschen als anthropologische Grundkonstante sein, als »die einzig wahre und universell gültige Sichtweise«. Wer etwas anderes sagt, wer glaubt, der Mensch sei so gut oder schlecht wie die Strukturen, in denen er lebt, ist ein linker Spinner. Hobbes’ politische Philosophie sei »der erste spezifisch moderne Versuch, eine kohärente und erschöpfende Antwort auf die Frage der Menschheit nach dem richtigen Leben« und der »nach der richtigen Ordnung der Gesellschaft« zu geben. Zugleich sieht Strauss aber in Hobbes’ Hinwendung zur rationalistischen, methodisch-individualistischen, letztlich liberalen Methode das Virus, das seiner eigentlichen Intention – der Begründung des autoritären Staates, die Strauss als Zielvorstellung teilt – den Teppich unter den Füßen weggezogen habe.
Strauss war ein Denker der Konterrevolution. Er wünschte sich eine Welt, in der Menschen wieder einen natürlichen Platz in einer natürlichen Ordnung finden, der ihnen von den Herrschenden und den sie beratenden Philosophenkönigen zugewiesen wird. Die Bürger, die Arbeiter, die Frauen, die Schwarzen, die Homosexuellen und – Gott bewahre – die Transsexuellen usw. waren ihm ein Dorn im Auge. Alle wollen sie was, und das nervt.
Sein Ziel lautete, Liberalismus und Sozialismus als Bruch mit dem althergebrachten und rechtmäßigen Denken über die richtige Ordnung zu markieren. Er spricht vom »Projekt der Moderne« und grenzt sich zunächst von herkömmlichen Definitionen ab, die die »Moderne als säkularisierten biblischen Glauben« begreifen, in der die Menschen »nicht auf das Leben im Himmel hoffen, sondern mit ausschließlich menschlichem Können den Himmel auf Erden schaffen« wollen. Dies sei indes bereits das erklärte Ziel Platons in seiner »Republik« gewesen.
Das Moderne-Projekt müsse verstanden werden als die »Verwerfung der vormodernen politischen Philosophie«. Letztere sei noch von »Einheit, einer eigenen Physiognomie« gekennzeichnet gewesen. Die moderne politische Philosophie, argumentiert er in »Three Waves of Modernity«, sei dagegen eine Säkularisierung, die letztlich viele sich wechselseitig ausschließende Modernen und damit »Willkür und Subjektivismus« (auch der Klassen) in die Welt gebracht habe, die sich des Staates bemächtigen würden, wenn man sie lässt.
Für Strauss beginnt das Liberalismusproblem aber nicht erst mit Hobbes. Dringend tatverdächtig ist bereits Niccolò Machiavelli. Der italienische Denker habe mit seiner radikalen, grundlosen Kritik an Thomas von Aquin die mittelalterliche Scholastik mit ihrem Gottesgnadentum und der von Gott hergeleiteten natürlichen Ordnung, ja das Denken über das, was eine »gute Ordnung« ausmacht, beendet. An die Stelle der »Suche nach dem Guten oder dem Natürlichen« habe er »ein technisches Problem« gesetzt. Machiavelli stehe für die Verwerfung des Naturrechts, das bis dahin noch die natürliche Ungleichheit und Ungleichwertigkeit begründet habe, zugunsten einer grundlosen Politik. Hobbes habe dann das »individuelle Recht« eingeführt, das die Menschen plötzlich gegenüber dem Staat geltend machten. Damit sei das Tor für John Lockes Liberalismus und für den Sozialismus als Gegenbewegung zu den Zumutungen des liberalen Kapitalismus geöffnet worden. Die Linie Rousseau-Kant-Hegel habe das Naturrecht dann endgültig der Geschichte unterworfen und damit dem Klassenkampf. Sie bilde »die Quelle für die zweite moderne Form der Regierung (…), den Kommunismus«. In dieser Weise attackiert Strauss den Liberalismus, um letztlich den Sozialismus zu treffen.
Strauss’ politische Philosophie beginnt also mit konservativer Kulturkritik. Er konstatiert einen Niedergang des Denkens. Seine Revolte gegen die Moderne ist buchstäblich Reaktion und Renaissance. Seine Stichwortgeber finden sich in der Antike und im Mittelalter. Die Absage an die Weisheit der klassischen antiken Philosophie sei das Resultat der Epoche. Die »neuartige politische Situation« habe nach einer »neuartigen politischen Wissenschaft gerufen«, die sich als »Liebesakt von dialektischem Materialismus und Psychoanalyse auf einem Bett vollzogen« habe, das »vom logischen Positivismus bereitgestellt« worden sei.
Strauss richtet sich gegen Positivismus und Historismus zugleich. Der von Karl Popper begründete Positivismus wollte zu enthistorisierten abstrakt-mathematischen Formeln gelangen, die in ihrer Ausrichtung an den Naturwissenschaften und an wiederholbare Experimente mit stets gleichen Ergebnissen allein den Anspruch strenger Wissenschaftlichkeit erheben könnten. Historismus und historischer Materialismus haben hiergegen eingewandt, dass Gesellschaft und ihre wirtschaftliche Grundlage auf freien Entscheidungen in gegebenen, aber veränderbaren Strukturen beruhten, weshalb die Vernaturwissenschaftlichung der Gesellschaftswissenschaft mit ihren an der Wirklichkeit vorbeizielenden abstrakten Annahmen – »Homo oeconomicus«, »Rational Choice«, »transparente Märkte«, Marktgleichgewicht usw. – nur zu Kappes führen könne.
Nach Strauss führt der Positivismus zwangsläufig zu Relativismus, weil »der moderne westliche Mensch nicht mehr weiß, was er will, nicht mehr glaubt, er kann wissen, was gut und was schlecht, richtig und falsch ist«. Max Webers Historismus wiederum ertränke die politische Philosophie in schlimmstenfalls »wertneutral« beschreibender Ideengeschichte. Beide hätten die politische Philosophie zerstört. An die Stelle des »absoluten Wissens vom Warum« sei in historisch wandelbarer partikularer Perspektiven das »relative Wissen vom Wie« getreten. Tatsächlich führe Poppers Positivismus sogar automatisch zu dem auch von ihm bekämpften Historismus.
Die »alte Politikwissenschaft« sei, schreibt Strauss im »Epilog« zu einem 1962 erschienenen wissenschaftstheoretischen Sammelband, noch von der Existenz eines rational zu ergründenden »Gemeinwohls« ausgegangen, das »in seiner Vervollkommnung die gute Gesellschaft« bedeute. Die »neue Politikwissenschaft«, die, ausgehend vom vernunftbegabten, rationale (Markt-)Entscheidungen treffenden Individuum, das »von Natur aus allein für sich beurteilt, was in seinem Interesse liegt«, für sich die ausschließliche Wissenschaftlichkeit reklamiere und alle andere Theorie zur Ideologie erkläre, sei »so unmöglich« wie jede andere »Verwerfung des logischen Verstands«. Das sei auch der Grund, warum auch Popper gar nicht umhinkomme, »früher oder später von solchen Dingen wie einer ›offenen Gesellschaft‹ zu sprechen«, d. h. das Allgemeininteresse und das Gesellschaftliche durch die Hintertür des methodischen Individualismus wiedereinzuführen. Die »offene Gesellschaft« sei nun einmal »die Definition einer guten Gesellschaft«.
Philosophenkönige
Nur die politischen Philosophen genießen bei Strauss das Privileg, als »echte Männer« der Wahrheit nahe zu kommen, und nur ihnen gebührt darum das Recht zu entscheiden, was richtig und was falsch ist. Die Existenz von Philosophenkönigen, die sagen, wo es lang geht, ist dabei entscheidend im Sinne der »Staatsräson«. Der prinzipienlose (liberale) Opportunist sei nicht vertrauenswürdig, er müsse so enden wie Thrasymachos im ersten Buch von Platons »Republik«. Wertneutralität sei eine Schimäre, nicht zuletzt bei Popper, dessen Falsifizierungsmethode letztlich »die Entwertung vorwissenschaftlichen Wissens« impliziere, mit dem Ergebnis von entweder »sterilen Studien« oder »komplizierten Borniertheiten«, mit »irrelevanten oder irreführenden Ergebnissen: Dinge, die jedes zehnjährige Kind von normaler Intelligenz weiß«, würden von Popper angesehen, »als bedürften sie des wissenschaftlichen Beweises«, der »nicht nur nicht nötig«, sondern »dazu nicht einmal möglich« sei.
Strauss’ Kritik trifft die machtblinde und opportunistische Grundtendenz des liberalen Zentristen, der sich von den »Extremisten« links und rechts abgrenzt, aber nie begründen kann, was die von ihm bevorzugte »Mitte« inhaltlich ausmacht. Die Behauptung des Liberalen, er stehe für »die Demokratie« sei nichts mehr als »ein Alibi für Denkfaulheit und Vulgarität«, weil der, der sie bekenntnishaft vor sich herträgt, »im Ergebnis« sage, »dass man über die Begründung, dass diese Dinge gut sind, nicht mehr nachdenken« müsse. Dieser Liberalismus sei in Wissenschaft, Gesellschaft und Politik der Weg zu »Konformismus und Philistertum«. Dabei sei der Liberale, der behaupte, im Sinne Max Webers wertneutral zu sein, also quasi keine Ideologie zu haben, gekennzeichnet durch »unsichtbare Werturteile«.
Den Verfechtern der hemdsärmeligen neuen Kalte-Kriegs-Ideologie von den »Demokratien versus Autokratien« möchte man heute mit Strauss entgegenhalten: »Man kann den Charakter einer spezifischen Demokratie oder der Demokratie im allgemeinen nicht ohne ein klares Verständnis von den Alternativen zur Demokratie bestimmen. Politikwissenschaftler neigen dazu, es bei der Unterscheidung von Demokratie und Autoritarismus zu belassen, d. h. sie verabsolutieren die gegebene politische Ordnung«, indem sie ihren »Horizont« nicht verlassen. Eine solche Wissenschaft diene aber dann der »gedankenlosen Affirmation« und Apologetik des Status quo und »der eigenen Machtinteressen und ihrer Durchsetzung auch international«.
Aus Strauss’ Ideologiekritik des Liberalismus ließe sich nun die sozialistische Demokratie begründen, die ihren Zweck in der Selbstorganisation, Selbstbefreiung und Selbstbestimmung der produktiven Menschen in all ihren Lebensbereichen inklusive ihres Arbeitsplatzes sieht und die Staatsorganisation genau an diesen kommunistischen Zielen ausrichtet. Bei Strauss jedoch führt die Kritik des Liberalismus nicht zu mehr Demokratie, sondern im Gegenteil zur »Tyrannei der Weisen« als einem von Strauss normativ präferierten Autoritarismus. Der fußt auf der totalen Verachtung der Massen und des Egalitarismus. Eigentlich könne, schreibt er, niemand ein guter Wissenschaftler im Sinne der politischen Philosophie sein, der »keinen Grund« sehe, »Menschen, deren Horizont auf ihren Lebensmittelkonsum und die Verdauung beschränkt ist, zu verachten«.
In »On Tyranny« (1948) ist Xenophon Strauss’ Kronzeuge für das Werturteil, dass »eine nützliche Tyrannei oder die Herrschaft eines Tyrannen, der auf den Rat der Weisen« höre, »ganz grundsätzlich der Gesetzesherrschaft«, sprich einem Rechtsstaat, »oder der Herrschaft durch gewählte Volksvertreter vorzuziehen« sei. In »Natural Right and History« argumentiert Strauss zwei Jahre später, dass es auch in der »Wahrheit«, die die Philosophenkönige anstreben, kein »Gemeinwohl« gebe. Jede Herrschaftsform und deren Gesetze seien die »eines bestimmten Teils«. Auch die Demokratie, die behaupte, »die Herrschaft aller zu sein«, sei bestenfalls die »Herrschaft der Mehrheit aller Erwachsenen«, aber die Mehrheit seien »die Armen, und die Armen sind, wie zahlreich auch immer, bloß ein Teil, dessen Interesse verschieden ist von den Interessen der anderen Teile«. Strauss negiert hier, dass die scheinbar partikularen Interessen der Armen, der Arbeiter – das Interesse an einem Lohn, von dem man leben, an einer Wohnung, die man bezahlen kann, an einem Leben, das auch in der Arbeit selbst bestimmt ist, usw., kurz: an Menschenwürde – die einzigen sind, die sich universalisieren lassen. Die Interessen der Besitzenden bleiben dehalb ohne Legitimität, weil ihr Leben auf der Ausbeutung anderer Menschen beruht.
Aber Strauss zieht den umgekehrten Schluss: Wenn Herrschaft ohnehin immer willkürlich ist und auf Gewalt beruht – einer Mehrheit über die Minderheit, einer Minderheit über die Mehrheit –, dann gelte hier auch kein Prinzip der Wahrheit oder des Richtigen, kein Gemeinwohl, sondern bloß »der Konventionalismus«. Gerade weil es keine natürliche Bestimmung darüber gebe, wo die Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Freund und Feind verlaufe, sei Herrschaft die grundlose Durchsetzung der gemeinsamen Interessen einer Gruppe. Die Macht im Staat sei nicht das Resultat irgendwelcher Vorstellungen von »Gerechtigkeit«, sondern die Macht einer »Räuberbande«, verstanden als eine »Vielheit von Menschen«, die sich »zusammengeschlossen haben, um ihre gemeinsamen Interessen gegen andere Menschen (…) durchzusetzen: gegen die Fremden und die Sklaven.«
Mit dieser realistischen Beschreibung bürgerlicher Herrschaft redet Strauss einem Rechtsnihilismus das Wort, in dem konventionell ausgeübte Macht an sich legitim ist. Für ihn bestimmt ein nietzscheanischer »Wille zur Macht«, was als wahr und tugendhaft zu gelten hat. An die Stelle der Gesetzesherrschaft, die die willkürliche Machtausübung beschränkt, tritt die souveräne Macht, deren Legitimität sich aus sich selbst ableitet, weil es keine äußerlich-abstrakte Begründung für sie gibt. »Das beste Regime« im Sinne der klassischen politischen Philosophie, schreibt Strauss im Anschluss an den klassischen Konservatismus, sei nicht das, was »am wünschenswerten« erscheint, sondern dasjenige, das »greifbar oder (…) auf Erden möglich« sei, weil es »der menschlichen Natur entspricht«, die – so Strauss’ negative Anthropologie – von einem inhärenten Dominanzstreben geprägt sei.
Verschleierung
Strauss’ Problem ist freilich, dass die Volksmassen nicht sonderlich erpicht darauf sind, sich von Tyrannen regieren zu lassen, die mit Philosophenkönigen verbündet sind, die für die Massen und deren »Sklavenmoral« nur Verachtung übrighaben. Strauss räumt dabei den »unnatürlichen Charakter der Sklaverei« sehr wohl ein. Jeder Mensch sträube »sich dagegen, zum Sklaven gemacht zu werden oder wie ein Sklave behandelt zu werden«. Er hasst, wie alle Rechten seiner Zeit, die soziale Demokratisierung durch den »New Deal« in den 1930er Jahren, weiß aber auch um dessen ideologische Massenwirkung. Folglich kreist sein Denken um die Frage, wie auch in der Massendemokratie die Massen gelenkt werden können.
Strauss’ Denkbewegung verläuft parallel zum antidemokratischen Gedankengut der wirtschaftswissenschaftlichen Rechten jener Zeit: Milton Friedman, Friedrich August von Hayek, Murray Rothbard usw. Aber während auch die Marktradikalen im keynesianischen Wohlfahrtsstaat die in ihren Augen widerlichste Form der »Pöbelherrschaft« erblickten und davon ausgingen, dass die Menschen niemals selbst für den Abbau des Sozialstaats und die Entfesselung der Marktkräfte stimmen würden, weshalb eine zeitweilige Diktatur zu ihrer Beglückung nötig sein könnte, richtete sich Strauss’ realistisches Denken darauf, wie die Rechte die Sklaven zu braven Schafen des Machtstaats machen könnte. Die Frage, die ihn umtrieb lautete: Wie wird Herrschaft legitim und stabil, wenn sie immer die Herrschaft einer »Räuberbande« ist, die andere Teile der Gesellschaft und das Ausland unterdrücken und ausbeuten will?
Strauss erinnert daran: »Ein Tyrann zu sein, als Tyrann und nicht als König angesehen zu werden, heißt, dass es einem nicht gelungen ist, Tyrannei in Königtum zu verwandeln«, also in eine »Herrschaft, die auf der Zustimmung der Beherrschten beruht.« Die beste Tyrannei sei die, die es vermag, als legitimes Königtum zu erscheinen, auch wenn sie sich explizit »nicht in Übereinstimmung mit den Gesetzen« des Gemeinwesens befinde, sondern »absolute Herrschaft« sei, die sich allein auf »den Willen des Herrschers« stütze.
Aber wie kann diese »tyranny at its best« erreicht werden? Strauss schlägt vor, dass der autoritäre Herrscher, der seine Machtausübung nicht hinter unpersönlichen Gesetzen verstecken kann, seine Aufgaben auf »Belohnungen (wie die Verleihung von Preisen)« beschränkt und »die Aufgabe von Bestrafungshandlungen anderen anvertraut«. Geschenke, Auszeichnungen, die Erlaubnis zur Bereicherung usw. ermöglichten, dass »die Untertanen sich mit ihren privaten Zwecken und nicht mit der Politik beschäftigen«.
Vor allem aber sucht Strauss nach der Optimierung von Herrschaft mit Hilfe der psychologischen Erkenntnisse über das Massenbewusstsein. Strauss’ Augenmerk richtet sich auf die Propaganda. So sehr ihn auch Innerlichkeit und Individualisierung stören, die mit der Psychologisierung der Gesellschaft im 20. Jahrhundert einhergehen, so sehr erkennt er die in der Psychoanalyse schlummernden Mittel der Bevölkerungskontrolle. Die Suche danach macht Strauss zum Machtzyniker. Während die Philosophenkönige aus Platons Höhle treten und dem Licht der Erkenntnis zustreben, gilt es nun, die demokratischen Massen innerhalb ihres natürlichen Unwissens zu lenken. Der »Glaube in die universelle Aufklärung für mehrere Generationen« habe die »Wichtigkeit von ›Propaganda‹« verdeckt, und erst jetzt werde man sich der »Notwendigkeit einer vulgären Rhetorik« als einer Rhetorik für die Vulgären bewusst.
In einer Art zweiten Höhlengleichnisses führt Strauss aus, dass die Herrschenden ihre eigentlichen Ziele zu verstecken hätten. Das Klandestine der Straussianer, denen man später nachsagt, dass sie sich wie Freimaurer mit geheimen Erkennungszeichen gegenseitig in Machtpositionen bringen, erklärt sich dadurch, dass sie um das Gespür der von ihnen verachteten Massen wussten.
Daraus ergibt sich für den reaktionären Denker folgendes Problem: Wie sagt man den Menschen, dass sie von Natur aus ungleich und vor allem ungleichwertig sind, weshalb es nichts bringe, den Proleten Bildung nahezubringen, Gesamtschulen einzuführen usw.? Wie lässt sich akademisch ausdrücken, dass man Arbeiter, Frauen, Schwarze und Latinos, die ja alle wählen dürfen, für ungleich und dümmer hält, weshalb sie sich mal nicht so aufführen sollen? Strauss lieferte der US-Rechten schon damals die Methoden, wie man Antidemokratisches, Rassistisches, Sexistisches und Klassistisches im Gestus des »Das wird man ja wohl noch sagen dürfen« formulieren konnte.
Als Elite qua Naturrecht sehen Strauss und seine Anhänger sich im Recht, Massenmanipulation zu rechtfertigen, die Bevölkerung über die Haltungen, Handlungen und Ziele der Herrschenden im Unklaren zu lassen, statt, wie von der Aufklärung gedacht, als Machtkritiker zur geistigen Befreiung aller beizutragen. Strauss verbindet so die antike Philosophie mit dem finstersten Nietzscheanismus. Er sei, schreibt die Kritikerin Shadia B. Drury, »weder ein traditioneller Konservativer noch jemand, der im stillen Kämmerlein alte Texte deutete, sondern der Repräsentant eines neuen bösen, radikalen, nihilistischen und postmodernen Konservatismus«.
Jünger
1969 geht Strauss in den Ruhestand. Er stirbt schließlich im Oktober 1973 in Annapolis in Maryland. Gut fünf Wochen zuvor hatten die geistesverwandten Marktradikalen um Milton Friedman und dessen »Chicago Boys« ihre Überzeugung, dass kein Volk so doof sein könne, den Abbau des Sozialstaats aus freien Stücken zu wählen, weshalb der »freie Markt« nur über den Umweg der Diktatur in die Welt kommen könne, in die Praxis der Unterstützung der konterrevolutionären Pinochet-Folterdiktatur überführt. Strauss hingegen glaubte, dass auch bei allgemeinem Wahlrecht das Volk, dieser »große Lümmel«, unter Kontrolle gehalten werden könne.
Im Laufe seines Lebens entstand um ihn eine große Anhängerschaft. Manche sprechen aufgrund der gepflegten Kultur einer kleinen verschworenen Gruppe der »Auserwählten« von einem Kult. Zu Berühmtheit gelangten einige ausgewählte »Straussians« als Akteure im Neokonservatismus, weshalb auch das Wort von den »Leo-Cons« die Runde machte. Der Bedeutendste von ihnen ist Paul Wolfowitz, stellvertretender Verteidigungsminister (2001–2005) in der Bush-Administration, der schon vor den Terroranschlägen von »9/11« auf einen Krieg gegen den Irak gedrängt hat und bereits am Tag danach den US-Sicherheitsberater Richard Clarke dazu überreden wollte, eine Verbindung zwischen dem Irak und »9/11« herzustellen. Später gestand Wolfowitz ein, dass Außenminister Colin Powell 2003 vor der UN-Generalversammlung gelogen hatte und die Beweise für die Waffen weitgehend erfunden waren. Das eigentliche Kriegsziel sei ein anderes gewesen. Strauss hätte von der »noblen Lüge« gesprochen. Etwa eine Million Menschen, die allermeisten von ihnen Zivilisten, bezahlten sie mit ihrem Leben.
Ingar Solty schrieb an dieser Stelle zuletzt in den Ausgaben vom 6. und 13. August über Meta Kraus-Fessel: Die Junkerstochter, die zur Kommunistin wurde.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (23. September 2024 um 09:22 Uhr)Leo Strauss war ein Denker, der eine radikale Kritik an der modernen politischen Philosophie formulierte und sich gegen die Prinzipien von Gleichheit, Freiheit und Demokratie wandte. Sein Denken ist eng mit der Bewegung der »Konservativen Revolution« verknüpft, die den Autoritarismus als Lösung gegen die Auflösung aufklärender Ordnungen propagierte. Er sah die liberale Moderne als destruktiv, da sie eine natürliche Ordnung unterminiere, in der jeder Mensch seinen festen Platz habe. Strauss stellte sich eine Gesellschaft vor, in der eine kleine Elite von Philosophenkönigen über die Massen herrscht und die natürliche Ungleichheit aufrechterhält. Ein zentrales Element seiner Philosophie war die Kritik am Liberalismus, den er als dekadent und schwach ansah. Liberalismus und Sozialismus waren für ihn Projekte der Moderne, die traditionelle Werte wie Hierarchie und Autorität infrage stellten. Die Massen, die in Demokratien die Mehrheit bilden, seien unfähig, das Gemeinwohl zu erkennen, weshalb die Herrschaft der »Weisen« einer demokratischen Ordnung vorzuziehen sei. Strauss' Philosophie war geprägt von der Idee, dass die Realität und Weisheit nur einer kleinen Elite zugänglich sei. Diese Elite müsse die Gesellschaft durch Täuschung und Propaganda lenken, um die Massen in ihrem natürlichen Unwissen zu halten. Dies führte zu seiner Unterstützung einer »esoterischen« Art des Denkens, bei der die wahren Ziele der Herrschenden vor den Massen verborgen bleiben. Für Strauss war es entscheidend, dass die Herrschaft der Eliten als legitim wahrgenommen wird, auch wenn sie auf willkürlicher Macht beruht. Insgesamt zielte Strauss' politische Philosophie darauf ab, die Prinzipien der liberalen Demokratie zu unterminieren und eine autoritäre Ordnung zu rechtfertigen, in der die Massen von einer kleinen Elite gelenkt werden. Seine Ideen fanden Anklang bei konservativen Denkern in den USA und beeinflussten stark die neokonservative Bewegung.
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