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Aus: Ausgabe vom 20.09.2024, Seite 10 / Feuilleton
Comic

Recherchierte Kunst

Gezeichnete Alternativen: Mit Comics Journalismus machen
Von Marc Hieronimus
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Es wird auch gefoltert (Joe Sacco: »Palästina«)

Einige Forscher streiten sich darüber, ob mittelalterliche oder gar antike Bildgeschichten schon zu den Comics zu rechnen seien. Auf Papier gedruckte, gezeichnete Erzählungen für ein Massenpublikum – also Comics im engeren Sinne – sind erst im 19. Jahrhundert aufgekommen und haben trotz aller Kunstfertigkeit ihr Image des Mediums für Kinder und Lesefaule bis heute nicht ganz abstreifen können. Das dürfte einer der Gründe sein, warum die doch naheliegende Idee, sie für den Journalismus zu nutzen, erst so spät und zögerlich umgesetzt wurde. Ein weiterer ist die offensichtliche Gemachtheit: Comics sieht man den Autorenbeitrag förmlich an, während Foto, Film und selbst die gesprochene Radionachricht den Anschein von Objektivität erwecken.

Wer sich für Comicjournalismus interessiert, trifft zwangsläufig auf Joe Sacco. Nach seinem Abschluss an der Journalistenschule der Universität von Oregon wollte er der, wie er fand, einseitigen Berichterstattung über den Nahostkonflikt eine Darstellung aus der Sicht der Palästinenser entgegensetzen und reiste 1991 für einige Monate nach Israel, um vor Ort zu recherchieren. Seine fast 300seitige, gerade erst neu aufgelegte Reportage »Palästina« machte ihn bekannt und motivierte ihn, den Entrechteten und dem Genre des engagierten Comicjournalismus treu zu bleiben. Zeichnerisch ist er Autodidakt und pflegt einen arbeitsintensiven Stil, der sich über die Jahre nur wenig verändert hat. Alle Schattierung, alle Textur schafft er durch haarnadelfeine Striche, jeder Hintergrund, jede Landschaft wird detailliert gezeichnet. Das lädt das Auge zum Verweilen ein, hält aber den Umfang seines Werks auch nach mehr als drei Jahrzehnten künstlerischen Schaffens recht überschaubar. Bei einer späteren Israel-Reise befragte Sacco Überlebende nach den 1956 im Gazastreifen begangenen Massakern, die damals kaum Aufsehen erregten. Andere Recherchen führten ihn nach Bosnien, in den Irak, zu den Unberührbaren nach Indien, zu Arbeitsmigranten in Malta und in den Norden Kanadas, wo nach den Umerziehungsmaßnahmen der Weißen nun der Abbau von Bodenschätzen der Rückkehr der Ureinwohner zu einer traditionelleren Lebensweise entgegensteht.

Der Frankokanadier Guy Delisle kam eher zufällig zum Journalismus. Sein Beruf als Zeichenprofi im Animationsbereich führte ihn nach Shenzhen und Pjöngjang, wo er die Arbeit von Zeichenassistenten anleiten sollte, die zu europäischen Zeichentrickfilmen beitragen. Seine Frau arbeitet für »Ärzte ohne Grenzen« und hat ihn nach Myanmar und Jerusalem mitgenommen. An jedem dieser Orte hielt Delisle zeichnerisch fest, was er erlebte. Sein erfolg- und lehrreichstes Buch enthält, wenig erstaunlich, die Aufzeichnungen aus seinem Jahr in der vermeintlichen »Stadt des Friedens«, denn das ist ein Nachteil seiner Herangehensweise: Delisle hat über die Jahre einen sehr verdichteten Zeichenstil entwickelt, pflegt einen feinen Humor und versteht es, Alltagsepisoden ebenso wie Kuriositäten auf den Punkt zu bringen, was er auch mit seinem »Ratgeber für schlechte Väter« unter Beweis gestellt hat, aber am Ende hängt die Spannung seiner kleinen Geschichten von den Zufällen und Gegebenheiten vor Ort ab, und mehr oder weniger freie Spaziergänge und -fahrten in Israel sind nun einmal bunter und erlebnisreicher als rund um die Uhr betreute Arbeitseinsätze in China oder Nordkorea. Auch wenn er wenig recherchiert, haben seine Aufzeichnungen durchaus Reportagecharakter. Seine ganz persönlichen Erlebnisse auf Spielplätzen und Märkten in Jerusalem, an Kontrollpunkten, bei den Samaritanern auf dem Berg Garizim oder in jüdischen Siedlungen, die – jedenfalls im Buch – von den Palästinensern wegen der billigen Mieten geschätzt werden, ergeben ein genaueres Bild von der komplexen Lage in Nahost als »objektive« Beiträge über Zusammenstöße in den klassischen Nachrichtenmedien.

Das Medium Comic steht diesen dabei im Facettenreichtum keineswegs nach. Der in Deutschland unbekannte Philippe Squarzoni zum Beispiel flicht in seine journalistisch-philosophischen Essays über die Zapatisten, den Klimawandel oder einen Auschwitz-Besuch abgepauste Fotos ein und kommentiert laufend den eigenen Denkprozess. Der an dieser Stelle bereits besprochene Comic »Games« (Splitter-Verlag, 2023) des Schweizer Illustrators Patrick Oberholzer basiert auf Unterhaltungen mit fünf afghanischen Geflüchteten, die in den späten 2010er Jahren nach Europa gekommen sind. Journalismus ist wahrscheinlich auch »Am Hügel« von Constantin Satüpo (Avant-Verlag, 2024) über einen Drogenumschlagplatz an der Pariser Porte de la Chapelle und das Milieu von Nutzern und Verkäufern. Der Protagonist der mit Kreide oder Wachs gezeichneten Dokumentation trägt seine Gedanken als Sprechgesang vor und fiktionalisiert die auftretenden Personen zu einem gewissen Grad.

Nun sind längst nicht alle Themen geeignet, in Comics von Albumlänge behandelt zu werden. Für kürzere Beiträge aber fehlten bis vor wenigen Jahren schlicht die Publikationsmöglichkeiten. 2013 startete in Frankreich La Revue dessinée. Das durchgehend gezeichnete und werbefreie Magazin bezahlt seine Beitragenden auskömmlich und rechnet sich offenbar trotzdem: 2016 kam das Jugendmagazin Topo hinzu, einige Sonderveröffentlichungen erreichen erstaunliche Auflagen, und seit 2022 gibt es eine italienische Ausgabe mit überwiegend eigenen Beiträgen. In den ersten neun Nummern hat sie so unterschiedliche Themen abgedeckt wie verlassene Bergdörfer, Pornos auf Onlyfans, Proteste gegen Schnellzüge, Mafia, Ursprünge des Yoga, Überfischung, Radiosendungen von Psychiatriepatienten, Abtreibung, Sweatshops, Hafenstreiks gegen Waffenlieferungen, Brandstiftung auf Sizilien, Pole Dance, Bergführung und Gletscherschmelze, Großstadtlegenden, Frauen im Militär, Tourismusfolgen, Darmflora, kirchlich organisierte Prostitution, Kinder im Gefängnis und, und, und. Die meisten davon sind schwer vorstellbar im SZ- oder Zeit-Magazin, die auf die Befindlichkeiten ihrer Werbekunden achten müssen und im Zweifelsfall vorauseilend zensieren, bevor Mercedes, die Deutsche Bank oder LVMH wegen allzu viel Politik oder Sozialkritik keine Anzeigen mehr schalten. Die Titelseiten der La Revue dessinée Italia vermitteln einen ersten Eindruck von der Vielfalt der Techniken und Zeichenstile, die von Kinderbuch, Anime und Yellow Submarine über Öl-, Akryl- oder Pastellgemälde bis zu Karikatur und klassischem Comic reichen. Viele Reportagen stützen sich auf Bücher und Filme und/oder schließen mit einem erklärenden Hintergrundtext. Nummer zehn ist auf dem Weg zu den Abonnenten.

Guy Delisle: Aufzeichnungen aus Jerusalem. Reprodukt-Verlag, Berlin 2012, 336 Seiten, 29 Euro

Guy Delisle: Pjöngjang. Reprodukt-Verlag, Berlin 2007, 184 Seiten, 20 Euro

Patrick Oberholzer: Games. Auf den Spuren der Flüchtenden aus Afghanistan. Splitter-Verlag, Bielefeld 2023, 96 Seiten, 22 Euro

Joe Sacco: Palästina. Edition Moderne, Zürich 2024, 302 Seiten, 29 Euro

Constantin Satüpo: Am Hügel. Avant-Verlag, Berlin 2024, 120 Seiten, 24 Euro

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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

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