75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Sa. / So., 21. / 22. September 2024, Nr. 221
Die junge Welt wird von 2939 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Ausgabe vom 21.09.2024, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Dass der das darf!

Von Reinhard Lauterbach
schwarzer kanal 1100 x 526.png

Der Deutschlandfunk hat sich etwas getraut, was über Jahre Alleinstellungsmerkmal dieser Zeitung war: Er hat ein Interview mit dem russischen Botschafter in Berlin, Sergej Netschajew, veröffentlicht. Es war für den Sendeplatz in den »Informationen am Morgen« ungewöhnlich lang: 20 Minuten in der Primetime einer Sendung, die vor allem der Selbstverständigung der politischen Klasse dieses Landes dient.

Inhaltlich bot das Interview wenig Neues. Netschajew tat, was seines Amtes ist: den Standpunkt seiner Regierung zu vertreten. Interessanter ist, was der Botschafter in dem Interview nicht sagte: dass zum Beispiel ein Land, das stolz darauf ist, zweitgrößter Waffenlieferant und Finanzier der Ukraine zu sein, nicht gleichzeitig den Anspruch erheben könne, im Ukraine-Konflikt zu vermitteln. Nein, Netschajew blieb höflich: Man habe die Äußerungen des Bundeskanzlers, es müsse jetzt beschleunigt über Möglichkeiten eines Friedensschlusses nachgedacht werden, »gern zur Kenntnis genommen« und warte jetzt auf Einzelheiten. Das hörte sich eher so an, als sollten hier Türen gerade nicht zugeschlagen werden. Auch was Netschajew gegen Ende des Gesprächs in einem Rückblick auf seine Karriere – die in der DDR begann und jetzt in Berlin ihrem Ende zugeht – mit Blick auf das russisch-deutsche Verhältnis sagte, war unter den heutigen Umständen bemerkenswert: zwischen Deutschen und Russen habe sich über Jahrzehnte ein einzigartiges Vertrauensverhältnis auf allen Ebenen entwickelt. Diese ganze Versöhnung liege nun leider auf Eis. Auf Eis, von dem sie also auch wieder herunterkommen könnte wie die sprichwörtliche Kuh.

Was das deutsche Kommentariat als »Demütigung« des DLF-Reporters Moritz Küppers wahrnahm: dass Netschajew sich an einer Stelle ständige Zwischenrufe und Einwände verbat, lässt sich auch ganz anders interpretieren – als der Versuch, nicht zu inhaltlich auf diese Einwände eingehen zu müssen. Zum Beispiel hatte Interviewer Küpper durchaus einen Punkt, als er fragte, welchen Sicherheitsgewinn die zweieinhalb Jahre Ukraine-Krieg denn für Russland und seine Bevölkerung gebracht hätten. Netschajews Antwort klang mechanisch: Russland habe seine Kriegsziele, und die erreiche es. Aber sie lautete im Kontext: Dazu möchte ich mich an dieser Stelle nicht äußern.

Doch zwischen den Zeilen zu lesen, das ist nicht mehr das, was deutsche Kommentatoren beherrschen. Statt dessen bekam der DLF sein Fett ab: Wie habe er »20 Minuten kostenlose Sendezeit« für »Putin-Propaganda« hergeben können? Der Sender muss auch intern kalte Füße bekommen haben, denn er schickte später – was sehr ungewöhnlich ist – eine »Einordnung« der früheren Moskau-Korrespondentin Gesine Dornblüth hinterher, die ihren Kollegen von der Frühsendung verständnisvoll zur Sau machte. In einer Livesituation – die freilich gar nicht vorlag, das Interview war ja vorher aufgezeichnet worden – sei es nicht möglich, alle Falschaussagen des Interviewpartners sofort zurückzuweisen. Die Taz erregte sich darüber, dass das Interview in der russischen Botschaft stattgefunden habe – wo denn sonst, vielleicht in der U-Bahn-Station »Unter den Linden«? Die FAZ wütete über »öffentlich-rechtliche Zersetzung«, zu der das Interview beigetragen habe. Bundeswehr-Professor Carlo Masala bemängelte, Netschajew habe nichts gesagt, was man nicht auch schon von Putin, Lawrow oder Kremlsprecher Peskow gehört habe – ja wie denn auch: Es ist Aufgabe eines Botschafters, die bestehende Linie zu vertreten, nicht, sie zu ändern.

Bleibt zum Schluss Ralf Fuecks zu zitieren, Kochef des »grün«-kriegshetzerischen Stinktanks »Zentrum Liberale Moderne«. Auf X antwortete er auf einen Leserkommentar, das Interview stehe für eines: »Die Dialogfraktion ist wieder im Kommen.« Fuecks meinte das bedauernd. Wir nicht, sofern es stimmen sollte.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Ähnliche:

  • Alles abgestimmt? Fraktionschef Mützenich und Kanzler Scholz (Be...
    17.09.2024

    Vermittler nicht erwünscht

    Ukrainischer Botschafter ruft SPD-Fraktionschef zur Ordnung. Kritik an geplantem Auftritt Stegners bei Friedensdemo
  • Pokrowsk, 3. August: Nach einem russischen Artillerieangriff
    06.08.2024

    Ausstiegsszenarios gesucht

    Im kollektiven Westen schwindet der Glauben an die Möglichkeit eines ukrainischen Sieges. In den USA wird über Verhandlungen diskutiert

Mehr aus: Wochenendbeilage