Wesenskräfte des Lebendigen
Von Fritz JacobiWir dokumentieren im Folgenden die Eröffnungsrede des Kunsthistorikers Fritz Jacobi zur Ausstellung »Flächennutzungsplan. Skulptur und Zeichnung« mit Werken von Rolf Biebl am 5. September 2024 in der Maigalerie von junge Welt, Berlin. (jW)
Ich kann heute, am 5. September 2024, am 250. Geburtstag von Caspar David Friedrich, der Versuchung nicht widerstehen, zwischen dem Maler der Romantik, der in Dresden sein Hauptwerk schuf, und dem Bildhauer der Jetztzeit, Rolf Biebl, 1951 in Klingenthal geboren, also 177 Jahre nach Friedrich, einen Bogen zu spannen. Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen dem Norddeutschen, der in die Landschaft eintauchte, und dem Vogtländer und späteren Berliner, der die Welten der Kunst vor allem von Ostdeutschland aus erkundet und seinen Wirkungskreis dann seit 1990 erweitert hat?
Beide mögen auf den ersten Blick sehr weit voneinander entfernt sein – schon die Unterschiedlichkeit der Gattungen scheint das nahezulegen –, aber bei näherer Betrachtung ergibt sich doch ein überraschender Bezug: Beide integrieren in ihr Werk in sehr starkem Maße eine unübersehbare Schockwirkung, die erst einmal Abstand gebietet und die Einfühlung auf neue Wege schickt. Das ist bei Friedrich nur ein Aspekt neben anderen, bei Biebl aber bestimmt sie das Werk vom Kern her, wird zum Hauptausdruck seiner künstlerischen Gestaltung.
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Was meine ich mit dieser »Schockwirkung« konkret?
Wer sich einmal intensiver mit Caspar David Friedrichs Baumdarstellungen beschäftigt hat, wird feststellen, dass sie häufig als skelettartige, nur mit kargem Blattwerk versehene, oft ohne Baumkrone dastehende Stammgebilde gezeigt werden. Sie wirken dann wie vereinsamte Gestalten, deren Äste und Zweige wie verzweifelte Arme nach etwas ausgreifen, das im Nichts verborgen liegt. In einer ganzen Reihe von Friedrichs Gemälden lässt sich diese fragmentierte, ja ruinenhafte Baumformation beobachten: »Der einsame Baum«, »Die Abtei im Eichwald« oder selbst die »Zwei Männer, den Mond betrachtend« sind nur einige der prägnanten Beispiele.
Bei Rolf Biebl haben wir es mit einer fast gegenteiligen Ausrichtung zu tun: Seine Figuren, die deutlich von der bewussten Verfremdung gekennzeichnet sind, scheinen fast immer aus dem Boden herauszuwachsen, sich aus einer Verwurzelung nach oben zu schrauben und die Disproportionierung mit angestrengter Energie im Gleichgewicht zu halten. Die beiden lebensgroßen Skulpturen der heutigen Präsentation, aber auch die riskante Schräglage der beiden kleinen Bronzen in dieser Schau bestätigen dieses Ringen um eine entsprechende Bodenhaftung, das den Blick des Betrachters immer wieder aufs Neue animiert.
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Während Friedrich seine skurrilen Baumgestalten der Weite des Raumes anheimgibt, spannt Biebl seine scheinbar willkürlichen Brechungen in die feste Umklammerung des Körpers ein. In beiden Fällen aber lösen diese Gestaltformationen ein Gefühl der Distanz, der Ernüchterung oder auch der Fremdheit aus – und das um so mehr, weil gerade Bäume und Körper als eigentlich vertraute, von Nähe getragene und mit organischer Greifbarkeit verbundene Realitäten hier in eine ganz eigenartige Erstarrung versetzt werden, die zunächst etwas ratlos zurücklässt. Das kann zur Abwendung führen, aber es kann auch in eine Herausforderung zum »Sich-Stellen« umschlagen, weil in diesen Verformungen Wesenskräfte des Lebendigen spürbar werden, die eben nicht nur heile Ganzheitlichkeit und eingängige Harmonie bezeugen, sondern Störungen, Gefährdungen und Fragmentierungen in verdichteter Form anschaulich werden lassen.
Kurzum: Die verknurzelten Bäume von Friedrich und die gegenläufig akzentuierten Körper von Biebl werden von einem durchaus verwandten, fast surreal zu nennenden Impetus geprägt. Das zeigt zugleich, wie sehr existentielle Grundmomente in der Kunst immer wieder, doch in sehr unterschiedlicher Art und Weise, über die Zeiten hinweg behandelt werden und damit auch für uns zugänglich bleiben.
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Caspar David Friedrich notierte einmal: »Beobachte die Form genau, die kleinste wie die große, und trenne nicht das Kleine vom Großen, wohl aber vom Ganzen das Kleinliche.«¹ Man hat bei Rolf Biebls Werken den Eindruck, dass er diese Forderung beherzigt hat – nicht immer in der angestrebten Form, aber zumeist doch mit gültigen, überzeugenden Ergebnissen. Dabei war er stets offen gegenüber den Leistungen vergangener und zeitgenössischer Kunst, besonders gegenüber jenen Kreationen, in denen das Organische des Körpers in ausdrucksbetonter Form eine neue, fast expressive Sprache gefunden hatte. 2020 schrieb er in einem Statement für die Ausstellung »Wahlverwandtschaften« in der Berliner Galerie Amalienpark: »Als Bildhauer und Maler ist man auf der Suche nach seiner absoluten Wahrheit. Im Studium waren es Alberto Giacometti und Wilhelm Lehmbruck, die mich inspirierten, später dann Giuliano Vangi, Jean Ipoustéguy und Alfred Hrdlicka. Bis zu jenem Punkt, ab dem ich mich von Einflüssen abgewendet habe. Bildhauerei fand ich dort interessant, wo es um den menschlichen Körper geht, plastisches Regelwerk und Verfremdung stattfinden und emotionaler ›Inhaltismus‹ den Betrachter ins ›Nervenkostüm‹ trifft.«²
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Der an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee und an der Akademie der Schönen Künste in Budapest ausgebildete Künstler, der von 1980 bis 1983 Meisterschüler bei Ludwig Engelhardt an der Berliner Akademie der Künste war, sich 1981 mit den Malern Clemens Gröszer und Harald Schulze zur strikt eigene Wege verfolgenden Gruppe NEON-REAL zusammenschloss und später mehrere Lehrämter übernahm – aktuell ist er Lehrbeauftragter der HTW Berlin –, fand zu Beginn der 1980er Jahre mehr und mehr zu dem für ihn typischen Stil.
Wie lässt sich die Grundspannung – ich spreche gern von »Konflikt« – in den Werken von Rolf Biebl charakterisieren? Was ist es, dass ihn in der deutschen Bildhauerszene zu einer so eigenständigen, durchaus Grenzen sprengenden Größe werden ließ?
Schon 1988, als ich als Mitarbeiter der Nationalgalerie (Ost) die Studioausstellung »Ideenplastik« im Alten Museum einrichten konnte, in der Biebls Arbeiten gewissermaßen eine Hauptrolle spielten und die den Erwerb der »Stehenden weiblichen Figur« für die Nationalgalerie zur Folge hatte, erläuterte er mir seine Herangehensweise in einem kurzen Text. Über seine damals entstandene, lebensgroße, gliederpuppenartige Aktfigur mit eigenwillig verformter Anatomie schrieb er: »Bei meinem ›Porträt Juliane Schihan‹ ging ich vom konkreten Naturvorbild aus. Um aber nicht in platten Naturalismus zu verfallen, setzte ich das Mittel der plastischen Verfremdung ein. Dies geschah jedoch unter ständiger Kontrolle, um nicht die faszinierende Ausstrahlung von J. S. zu verlieren.« Aber es gebe auch – so Biebl weiter – neue »Figuren, die losgelöst vom Naturvorbild entstehen. Reine Körpersituationen werden reflektiert, innere Zustände (Anstrengung) manifestieren sich durch organische Tatbestände.«³
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Im Grunde hat sich an dieser prinzipiellen Intention bis heute nichts verändert, auch wenn die Ausformung dieser angestrebten Vorstellung natürlich sehr unterschiedliche Ausprägungen erfuhr. Dabei reicht die Skala seiner Formgebungen von einer eher gemäßigten Gestaltgebung – die »Rosa Luxemburg« hier vorm Hause ist ein schönes Beispiel dafür – bis hin zu einer stärker ekstatisch ausgreifenden Figuration, wie sie etwa in den beiden überlebensgroßen Standbildern von »Adam« und »Eva« in der Kulturbrauerei erlebbar wird.
Seine zumeist dynamisch aufgeladenen Gestaltbildungen werden bestimmt von der in eine erkenn- und deutbare Gesamtform eingebrachten Stückung, in der eigentlich nichts richtig zusammenpasst und doch durch eine Art inneres Gerüst zusammengehalten wird. Die Brüchigkeit wird in die Gesamtheit transponiert und erhält damit einen neuen Stellenwert, der eine erweiterte Deutung zulässt – das Detail wird gewissermaßen freigesetzt.
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Hinzu kommt als ein wesentliches Gestaltprinzip Rolf Biebls die mehr oder minder große Ungleichheit der Teilpartien. Schaut man beispielsweise auf den »Stehenden Mann« (»O. T.«) von 1989, der als Hauptwerk dieser Ausstellung den Raum bestimmt, so fallen bei ihm die ins Extrem getriebenen Größenunterschiede besonders auf: Wir sehen einen übergewichtigen Kopf, der nur schwerlich noch zu halten ist; die dünngliedrige, staksige linke Beinpartie, die winkelartig auskragt; den massiven rechten Fußblock, der alles geradeso noch im Boden verankert oder den aufgesäulten schlanken Körperaufbau, der sich als stark reduzierte, stämmige Halterung erweist. Man denkt unwillkürlich an Steven Spielbergs Film »E. T.« oder an andere Gestalten des Untergründigen – und doch bleibt ein Rest an Empathie und Identifizierung bestehen. Denn alles ist höchst plastisch durchgeformt, Assoziationen an Muskeln, Knochen, Gelenke oder andere Körperbildungen werden ausgelöst, bleiben andererseits aber immer wieder im Ansatz stecken, weil sich daraus kein überzeugendes, gewohntes Gesamtgebilde ergibt. Man könnte von einer Art Gelenk- oder Scharnierskulptur sprechen, deren Rätselhaftigkeit nicht lösbar ist – sie muss zwangsläufig akzeptiert und angenommen werden, bleibt als widerständiges Körperbild ein permanenter Anstoß. Gerade darin, im Widerstreit und Wechselspiel solcher körperlicher Energien, liegt die treibende, nachhaltig wirkende Kraft dieser Skulpturen.
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Werden die bildhauerischen Arbeiten von der geschlossenen Form, von der umrissenen Einbindung bestimmt, was auch für die 1995 spontan entstandenen, intensiv geballten Körperzeichnungen auf alten Flächennutzungsplänen des Senats zutrifft, die hier zum ersten Mal ausgestellt werden, so begegnen wir in Biebls Grafiken einer deutlich aufgebrocheneren Bildsprache. Wohl dominiert die zeichenhafte Linie, aber sie ist sensitiver, fast seismographisch eingesetzt, lässt ein räumliches Atmen zu und gibt der ganzheitlichen Gestalt eine sinnlich-durchpulste Beweglichkeit. Aber auch hier gilt, was die Werke von Rolf Biebl generell auszeichnet: Das Nervig-Unbehauste schiebt sich unaufhaltsam in die Empfindung des Betrachters!
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Lassen Sie mich schließen mit einem Zitat von Rolf Biebl, einer Antwort auf die Frage des Kunstwissenschaftlers Matthias Flügge in einem Interview von 2011: »Hast du eine Vision von der Zukunft der Figuration – wenigstens eine Idee?« Rolf erwidert: »Die Möglichkeiten der Bildhauerei über den Menschen sind noch längst nicht ausgeschöpft. Auch wenn – oder gerade weil – die Perspektiven ständig wechseln. Es geht ja nicht um Nachahmung, es geht um Vergewisserung und die Anwendung bildhauerischer Gesetzmäßigkeiten, nur so können Kunstwerke entstehen, die etwas über unser Leben erzählen. Der Kettenbrief des menschlichen Körpers in der Kunst hört nicht einfach so auf – im Gegenteil, er wird weitergeschrieben.«4
Anmerkungen
1 Caspar David Friedrich, zitiert nach: Irma Emmrich, Caspar David Friedrich, Reihe Maler und Werk, Dresden 1971, Rücktitel
2 Rolf Biebl: Statement für die Ausstellung »Wahlverwandtschaften. Rolf Biebl / Martin Enderlein / Annette Gundermann / Volker Henze / Thomas K. Müller / Nuria Quevedo«, Galerie Amalienpark / Raum für Kunst, Berlin 2021 (geschrieben 2020)
3 Rolf Biebl: Schreiben des Künstlers an den Autor vom Januar 1988. Zitiert nach: Fritz Jacobi: Ideenplastik – Sinnzeichen in der Bildhauerkunst der DDR. Das Studio 42, Ausst.-Kat., Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie 1988, S. 1
4 Matthias Flügge im Gespräch mit Rolf Biebl, in: Rolf Biebl: Verkörperung. Plastik / Skulptur aus drei Jahrzehnten, Ausst.-Kat., Museumsverbund Pankow, Berlin 2011, S. 11
Fritz Jacobi ist promovierter Kunsthistoriker und Kustos der Neuen Nationalgalerie a. D. Er lebt in Berlin
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