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Aus: Ausgabe vom 23.09.2024, Seite 10 / Feuilleton
Serie

Die Antwort geben die Betriebswirte. Die Tom-Wolfe-Verfilmung »Ein ganzer Kerl«

Die Tom-Wolfe-Verfilmung »Ein ganzer Kerl« zeigt: Netflix muss sparen
Von Frank Jöricke
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Action! Cut! Action! Cut! – Tome Wolfe verfilmt wie ein Groschenheft

Amerika, Du hast es besser! Während in Deutschland seit jeher gerne Langeweile mit Literatur verwechselt wird, sind die Amis Meister darin, das pralle Leben zu beschreiben. Das fällt ihnen leicht, weil nicht wenige unter ihnen sich vorher als Reporter bewährten. Sie sind geübt darin, scharf zu beobachten und genau hinzuhören. So gelang es dem ehemaligen Sportjournalisten Ring Lardner schon vor 100 Jahren, seine Charaktere nur durch Sprache zu entlarven. In seinen Kurzgeschichten lässt er sie einfach drauflosquatschen, sich um Kopf und Kragen reden – und schon entstehen Persönlichkeitsprofile.

Später, in den 60ern und 70ern, kam mit dem New Journalism eine subjektive Komponente hinzu. Wer in »Kaltblütig« (Truman Capote) oder »Angst und Schrecken in Las Vegas« (Hunter S. Thompson) eintauchte, fand sich in einem Leben wieder, das sich wie ein Psychothriller las. Ob das noch Wirklichkeit war oder bereits Fiktion, spielte keine Rolle. Es ging nicht um den Wahrheitsgehalt, sondern um Wahrhaftigkeit. Deshalb konnte es sich Tom Wolfe, der bekannteste New Journalist, im Jahr 2000 auch erlauben, in seinen Essay- und Reportagenband »Hooking Up« eine erfundene Novelle über die Medienwelt zu packen. Wer Wolfes Texte – ob faktentreu oder fiktiv – liest, versteht danach die Welt und die in ihr wirkenden Mechanismen besser.

Das gilt erst recht für seine Romane »Fegefeuer der Eitelkeiten« (1987) und »Ein ganzer Kerl« (1998). Es sind 1.000-Seiten-Schwarten, in denen ein ganzer gesellschaftlicher Kosmos ausgebreitet wird. Man begreift beim Lesen, wie diese seltsame kapitalistische Welt – das ständige Bemühen, im Rattenrennen die Nase vorn zu haben oder wenigstens nicht abgehängt zu werden – das Zwischenmenschliche vergiftet. Ob jemand arm oder reich, schwarz oder weiß ist, spielt dabei keine Rolle. Wo sich keiner seiner gesellschaftlichen Rolle sicher sein kann, ist jedes Mittel recht. Man darf sich nur nicht erwischen lassen. Dem Reporter Wolfe kommt dabei zugute, dass er beschreibt, nicht bewertet. Die passende Moral oder Ideologie muss man sich selbst dazudenken.

Musterhaft führt dies das »Satteltaschen«-Kapitel in »Ein ganzer Kerl« vor. Da wird der Immobilienmogul Charlie Croker von seiner Hausbank, der er Hunderte von Millionen schuldet, durch die Mangel gedreht. Mit der Akri­bie eines Uhrmachers legt Tom Wolfe offen, wie Macht funktioniert und wie man sie demonstriert. Selbst das Abschalten der Klimaanlage wird zum Akt der Demütigung (die »Satteltaschen« sind die Schweißränder am Hemd des Erniedrigten). Jedes Detail wird genussvoll ausgebreitet. Über 30 Seiten braucht es, bis der Riese Charlie Croker als Zwerg den Sitzungssaal verlässt.

So viel Hingabe und Muße konnten sich die Macher der Serienadaption von Netflix leider nicht erlauben. Das »Satteltaschen«-Kapitel wird in wenigen Minuten filmisch abgehandelt. Man hat schließlich keine Zeit. Ein 1.000-Seiten-Roman muss in 268 Minuten (einschließlich sechs Abspanne) runtererzählt sein. Dies ist nur möglich, indem man ein pointillistisches Gemälde in einen Holzschnitt verwandelt. Schlüsselepisoden, die im Buch ein ganzes Kapitel einnehmen, werden in der Serie in einem Nebensatz erwähnt – als würde man die Party seines Lebens mit den Worten zusammenfassen: »Ich war neulich auf einer Fete.« So hetzen die Darsteller von Szene zu Szene. ­Action! Cut! Action! Cut! Als gälte es, ein Groschenheft zu verfilmen – und nicht einen der größten Gesellschaftsromane der modernen Literatur. Unweigerlich fragt man sich: Was soll das? Warum hat Netflix sich nicht die Mühe gemacht, dieses Epos als opulente Serie in mehreren Staffeln umzusetzen?

Die Antwort geben die Betriebswirte: Jene kapitalistische Welt, die Wolfes Buch in allen Nuancen beschreibt, spiegelt sich mittlerweile auch in der Netflix-Programmpolitik wider. Das Unternehmen kann es sich nicht länger erlauben, teure Flops zu produzieren. Also Serien, die zwar Kritiker begeistern, nicht jedoch die Masse der Abonnenten. Das ist unbefriedigend, aber auch für die Fans. Diese sind frustriert, weil hochklassige Serien wie David Finchers »Mindhunter«, »Deadwood« und »Hannibal« nach zwei oder drei Staffeln unerwartet abgebrochen wurden. Die Folge: Handlungsstränge enden im Nichts. Der Cliffhanger entpuppt sich als ewige Warteschleife. So verprellt man anspruchsvollere Abonnenten.

Einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet das Genre der Miniserie. Das finanzielle Risiko ist überschaubar, und der Zuschauer erhält die erwünschte Auflösung. Auch tut die zeitliche Beschränkung mancher Story gut. Nicht jeden Handlungsfaden sollte man über mehrere Staffeln weiterspinnen. Umgekehrt lässt sich nicht jede Geschichte in ein paar Folgen abhandeln. »Die Sopranos«, »Mad Men«, »Breaking Bad« oder »Game of Thrones« als Sechsteiler? Undenkbar. Das gilt auch für »Ein ganzer Kerl«. Der Roman hätte das Zeug für eine 30stündige Saga. Stattdessen hechelt man ihn in viereinhalb Stunden durch. Was der 2018 verstorbene Tom Wolfe davon gehalten hätte? Vermutlich hätte er ein ironisches Essay darüber geschrieben. Oder eine Kurzgeschichte, die sich verdammt real anhört.

»Ein ganzer Kerl«, USA 2024. Regie: Regina King, Thomas Schlamme. Sechs Folgen, insg. 268 Min. Auf Netflix

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