Hier lässt sich’s aushalten
Von Frank SchwarzbergEinmal spielte der gute Markus Rill aus Franken in der Nähe. Zwischen zwei Songs erzählte er, dass in seinem Traumhaus nur drei Musiker in der obersten Etage wohnten: Townes Van Zandt, Bob Dylan, Johnny Cash. Wenige andere dürften zumindest zu Besuch kommen. Das Haus gibt es auch 2024 noch. Aber es steht leer. Townes und Johnny sind ausgeflogen, und Bob ist nie da. »To live is to fly / Low and high«.
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»Low«. Zwei außergewöhnliche Musikerinnen folgen auf ihren neuen Alben unterschiedlichen Wegen, um aus ihren Tiefs zu kommen. Lesley Kernochan wählt den der Schönheit. Eine chronische, hartnäckige Krankheit begleitet die 41jährige Songwriterin aus San Diego seit Jahren – erst jetzt, in den Liner notes zu ihrem fünften Album, schreibt sie darüber. »Turtleback Mountain« heißt es, nach dem Berg in New Mexico, an dessen Fuß die Aufnahmen entstanden. Es ist ein makelloses Folk-Blues-Jazz-Rock-Album geworden, großartig gesungen und produziert (u a. Dean Parks an den Gitarren). Ihr bisher bestes.
Als »Brutiful«, brutal und schön zugleich, beschreibt Lesley Kernochan ihren eigenen Schildkrötenweg. Auch zu Joana Serrats neuer Musik passt das Wort perfekt, obwohl die ebenfalls 41jährige Katalanin auf ihrem fünften Album »Big Wave« einen anderen Weg geht. Auch sie stellt sich großen Traumata: Tod, Verletzungen, Selbsttäuschungen, Depressionen. Desillusionierte Zeilen sang Serrat schon auf ihren letzten Alben, aber sie sang sie federleicht. Die Musik, früher Americana, zuletzt angereichert mit majestätischen Shoegaze-Klangschichten, schwebte stets aufwärts. Nun drückt Serrats »Big Wave« alles nieder. Ihre Stimme und ihre nach wie vor herrlichen Melodien kämpfen mit den neuen, tonnenschweren Gothic-Arrangements. Wenn es mal kurz leichter klingt, sind es nur Momente des Luftholens. Großartige, immer besser werdende Alben hat Joana Serrat seit 2016 aufgenommen. »Big Wave« ist ihr größtes, eine Urgewalt.
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»High«. Mit Tiefs muss man leben lernen, aber auch feiern, wenn es gelingt. Den Frauen mit der besten Musik des Jahres reicht es jetzt, sie haben sich zusammengetan und das leere Haus besetzt. Im Nu liegen überall Gitarren und Plektrums rum, ständig wird gesprochen, gelacht, gesungen und getrunken, alles gleichzeitig.
Die Musikerinnen halten es unkompliziert, Männerbesuch ist erlaubt. Mal sind die Jungs von Mowed Sound da und jammen mit der sich entspannt fläzenden und grimassierenden Rosali. Dann tobt sich Vera Sola mit Kenneth Pattengale und anderen Freunden aus. Die anderen seufzen und räumen schnell ab, sie kennen das schon: Vera tanzt auf dem Tisch und singt mit großen, ausholenden Gesten. Ruhiger wird’s, wenn Adrianne Lenker in sich hineinsingt oder Georgia Ruth ihren Neo-Folkpop. Die vier Irinnen von Landless sind auf Besuch und fühlen sich gleich heimisch, wie in Dublin auf einer Session im Cobblestone Pub. Es wird mucksmäuschenstill, wenn sie ihren außerweltlichen Satzgesang anstimmen. Dann zerreißt ein schrilles Telefonklingen die Stille: Video call von Billie Eilish. Gleich darauf noch eine SMS von Beth Gibbons – sie grüße herzlich, bleibe aber lieber für sich.
Langsam wird es Nacht. Katharina Kollmann von Nichtseattle steht jetzt auf: Sie fahre noch mal eine Runde Fahrrad, durch ihre »Zuhausestadt«. Schließlich fragt Lesley: »Wann kommt eigentlich … der Hausherr zurück?« Die anderen lachen: »Bobby? Der lässt sich doch eh ständig in seinem verhängten Bus durch die Gegend fahren.« Einige googeln. »Hier steht’s: ›neverending tour‹!« Die Mienen entspannen sich. Joana Serrat schenkt nach. Dazu summt sie leise die Melodie zu dem zartestbrutalsten ihrer neuen Songs: »A Dream That Can Last.«
Joana Serrat: Big Wave (Great Canyon)
Lesley Kernochan: Turtleback Mountain (zu bestellen über lesleykernochan.com)
Adrianne Lenker: Bright Future (4 AD)
Landless: Lúireach (Glitterbeat)
Georgia Ruth: Cool Head (Bubblewrap Records)
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