Der reine Horror
Von Nico PoppAm Anteil von kopflosem Unsinn in den Wortmeldungen führender Vertreter einer beliebigen Partei nach einer Wahl kann man gewöhnlich ablesen, wie sehr dieser Partei das Ergebnis wehtut. Legt man einmal diesen Maßstab an, dann winden sich nach der Brandenburgwahl vor allem Bündnis 90/Die Grünen vor Schmerz. Der Landesverband von Außenministerin Annalena Baerbock blieb am Sonntag unter der Sperrklausel von fünf Prozent und verfehlte auch das angestrebte Direktmandat in Potsdam.
Den Absturz aus der Höhe der Ministersessel in den Abgrund der außerparlamentarischen Opposition beantwortete die Partei mit noch verstärkten Vorwürfen des Vaterlandsverrats in Richtung AfD und BSW. Schon in der Runde der Geschäftsführer der Bundestagsparteien am Sonntag in der ARD bezeichnete Grünen-Geschäftsführerin Emily Büning die beiden Parteien, für die in Brandenburg zusammengerechnet über 40 Prozent der Wählerinnen und Wähler gestimmt haben, als »Handlanger« des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Am Montag meldete sich der stellvertretende Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, Konstantin von Notz, zu Wort: »In diesem Landtag stehen Putin und russische Einflussnahme zukünftig nicht nur auf einem Fuß, sondern auf zwei.« Der Brandenburger Nochfraktionschef Benjamin Raschke sprach von einem »Horrorlandtag« ohne »progressive Kraft«.
In der SPD wird dagegen durchgeatmet. Für den Fall, dass Dietmar Woidke – der seinen Abgang angekündigt hatte, sollte die SPD hinter der AfD landen – stolpert, waren im Vorfeld wachsende innerparteiliche Schwierigkeiten für den Bundeskanzler prophezeit worden. Nun kann Scholz sich darauf einstellen, in den nächsten Bundestagswahlkampf als Kanzlerkandidat gehen zu können. Am Montag stellte sich Wahlsieger Woidke, der im Wahlkampf wohlweislich auf Auftritte des Kanzlers verzichtet hatte, demonstrativ hinter ihn.
Scholz muss in den nächsten Monaten vor allem auf die Koalitionspartner achtgeben: Neben den Grünen bezog am Sonntag auch die FDP spektakulär Prügel. Grünen-Chef Omid Nouripour sagte am Montag, seine Partei fühle sich an den Koalitionsvertrag gebunden, »aber das ist es auch dann«. Er »würde niemandem raten, in diese Koalition viele Emotionen mehr zu stecken«. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner sagte, die Bundesregierung müsse jetzt »liefern« in der Wirtschaftspolitik, beim Haushalt und bei der Kontrolle der Zuwanderung. Das seien »Fragen, die in diesem Herbst geklärt werden müssen«. FDP-Vize Wolfgang Kubicki nannte bei Welt TV einen Zeitraum von »14 Tagen, drei Wochen«. Finde man dann keinen »vernünftigen gemeinsamen Nenner«, mache es für die FDP »keinen Sinn mehr, an dieser Koalition weiter mitzuwirken«. Besonders die Zusammenarbeit mit den Grünen sei für die FDP »toxisch«.
In der CDU-Bundesspitze ist man über das Brandenburger Resultat – wenige Tage nach der Kanzlerkandidatenkür von Parteichef Friedrich Merz – alles andere als glücklich. Merz kritisierte am Montag scharf die Unterstützung, die der sächsische CDU-Regierungschef Michael Kretschmer Woidke im Wahlkampf geleistet hatte. Das habe dem Wahlkampf des Brandenburger CDU-Spitzenkandidaten Jan Redmann »massiv geschadet«, sagte Merz. Kretschmers Agieren sei nun auch im CDU-Präsidium »auf breite Kritik gestoßen«. Redmann sagte, er gehe davon aus, dass Kretschmers Äußerungen zur »Demobilisierung« der CDU-Wählerschaft beigetragen hätten.
Neben SPD und CDU werden im neuen Landtag nur noch BSW und AfD vertreten sein. Eine Koalition mit der AfD, die mehr als ein Drittel der Abgeordneten stellt, haben die anderen Parteien ausgeschlossen. Eine Regierung mit eigener Mehrheit kann die SPD nur mit dem BSW bilden, da SPD und CDU nur auf 44 von 88 Sitzen kommen. BSW-Generalsekretär Stefan Roth kündigte an, die Partei wolle »entschieden für eine neue Politik streiten, für eine Friedenspolitik, für eine korrigierte Migrationspolitik, für eine Politik der Abrüstung, für eine Beendigung der katastrophalen Wirtschafts- und Energiepolitik«.
Hintergrund:
Tierschutz statt FDPBei der Brandenburger Landtagswahl ist – wie schon bei den Wahlen in Sachsen und Thüringen am 1. September – die Beteiligung sehr rege gewesen. Während bei der Neuwahl des Landtages vor zehn Jahren nur noch 47,9 Prozent der Wählerinnen und Wähler in Brandenburg ihr Kreuzchen gemacht hatten, lag die Wahlbeteiligung am Sonntag bei 72,9 Prozent – die höchste seit 1990. Ziemlich genau ein Drittel der 1,51 Millionen Wählenden hat per Briefwahl abgestimmt. Unter dem Strich war bei fast allen relevanten Parteien das Briefwahlergebnis besser als das Ergebnis der Urnenwahl. Nur bei der AfD nicht: Während 34,8 Prozent der Urnenwähler für die AfD stimmten, waren es nur 17,5 Prozent der Briefwähler. Die CDU zum Beispiel kam bei den Briefwählern auf 16,6 Prozent, bei den Urnenwählern aber nur auf zehn Prozent. Auch an diesem Verhältnis kann man ablesen, was Wählerbefragungen gezeigt haben: Die AfD wurde besonders häufig von jüngeren Menschen gewählt.
Die Wahlbeteiligung fiel wie üblich dort besonders hoch aus, wo viele Gutverdiener leben: Im Wahlkreis Potsdam-Mittelmark III/Potsdam III, wo zahlreiche Mitarbeiter von Landes- und Bundesbehörden Haus und Grundstück haben, im Wahlkreis Potsdam I mit den Villenvorstädten der Landeshauptstadt und in Kleinmachnow an der Grenze zum ehemaligen Berliner Bezirk Zehlendorf lag die Wahlbeteiligung bei über 80 Prozent, in Schwedt dagegen nur bei 66,6, in Wittenberge bei 63,5 Prozent.
Die SPD kam am Sonntag unter dem Strich auf 463.678 Stimmen (30,89 Prozent), die AfD auf 438.811 (29,23 Prozent). Das BSW, das keine Direktkandidaten in den einzelnen Wahlkreisen aufgestellt hatte, wurde mit 202.343 Stimmen aus dem Stand drittstärkste Kraft (13,48 Prozent). Die CDU erzielte mit 181.632 Stimmen (12,1 Prozent) ihr bislang schlechtestes Ergebnis in Brandenburg. Nur diese vier Parteien gehören dem Landtag an. Mit Linkspartei (2,98 Prozent), Bündnis 90/Die Grünen (4,13 Prozent) und Freien Wählern (2,57 Prozent) scheiden gleich drei Parteien, die bislang im Landtag (und im Fall der Grünen auch in der Regierung) vertreten waren, aus dem Parlament aus. Die FDP, die im Bund mitregiert, kam am Sonntag in Brandenburg nur noch auf einen Stimmenanteil von 0,83 Prozent und schnitt damit schlechter ab als die Tierschutzpartei, für die sich zwei Prozent der Wähler entschieden. Unter einem Prozent blieb auch die DKP (1.028 Stimmen/0,07 Prozent). Nun auch im dritten ostdeutschen Bundesland erfolglos angetreten ist die Werteunion, die auf 3.877 Stimmen kam, was für einen Anteil von 0,26 Prozent reichte. Die faschistische Partei III. Weg erhielt 1.810 Stimmen (0,12 Prozent). (np)
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Leserbrief von Andreas Kubenka aus Ost-Berlin (24. September 2024 um 13:11 Uhr)Die vielleicht hübscheste Facette des Brandenburger Wahlergebnisses ist das Hokus-Pokus-Verschwindibus-Resultat der FDP. Auch dass die Öko-FDP es nicht geschafft hat, ist Grund zur Freude für alle Feinde des Sozialdarwinismus – auch in seiner »öko-faschistischen« Variante.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (24. September 2024 um 09:57 Uhr)Die Wahl ist vorbei, die Ergebnisse stehen, und was bleibt den Verlierern? Statt Analyse – der Griff in die Mottenkiste: »Vaterlandsverrat« hier, »Putins Handlanger« da. Die Grünen unter fünf Prozent? Kein Grund zur Selbstreflexion! Da hilft nur eines: den Wählerwillen zu beschimpfen. Dabei wäre eine Frage durchaus angebracht: Warum laufen ihnen die Leute in Scharen davon? Aber wozu über Ursachen nachdenken, wenn man stattdessen mit der Moralkeule schwingen kann. Man kann nur hoffen, dass der neue »Horrorlandtag« ein wenig mehr Bodenhaftung zeigt als die Verlierer-Rhetorik.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Rainer Erich K. aus Potsdam (24. September 2024 um 07:33 Uhr)An den Worten nach einer, nach hiesigen Maßstäben, demokratischen Wahl, erkennt man die Antidemokraten. Dabei stehen die Grünen in der Pole-Position. Nicht die eigenen Fehlleistungen anerkennen, die verheerende Politik der Wirtschaftsvernichtung und der Kriegstreiberei ändern und zu den Wurzeln der ehemals progressiven, kapitalismuskritischen Friedenspartei zurückkehren, sondern Wählerbeschimpfung, antidemokratische Hetze, Russophobie und das Beschwören eines »Weiter so«. Was für eine Horrortruppe, bei der die herum schwadronierende und völlig überforderte Außenministerin an vorderster Front steht.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Andreas E. aus Schönefeld (24. September 2024 um 06:15 Uhr)Die Ausbrüche von Bündnis 90/Die Grünen in Richtung BSW zeigen eines – getroffene Hunde bellen. Was passiert, wenn das BSW seine friedenspolitischen Forderungen in den Koalitionsverhandlungen so einbringt, dass die SPD sich gezwungen sieht, die Verhandlungen abzubrechen? Ich hoffe sehr, dass sich das BSW in den Verhandlungen nicht verbiegen lässt. Dann gäbe es zwei Varianten. Die Erste – Neuwahlen. Das werden SPD und CDU, mit Blick auf eine weiter erstarkende AfD, versuchen zu verhindern. Die CDU hätte dann die »Chance«, sich als »Interessenwalter« des Volkes zu profilieren und in »staatsmännischer« Manier doch Regierungsverantwortung übernehmen. Das wäre offene Wahlkampfhilfe für Blackrock-Merz und Co. Also ein Dilemma, welches vor allem das BSW trifft. Die letzte Option – eine Koalition der SPD mit der AfD? Nahezu unwahrscheinlich. Also stehen jetzt die gewählten Vertreter des BSW unter einem gewissen Handlungsdruck. Denn die SPD/CDU-Koalition wäre das klassische »Weiter so« in Brandenburg und das will ja eigentlich kaum jemand. Bliebe noch die Dreierkoalition, aber die steht auf Grund der oben genannten BSW-Positionen als theoretisch im Raum. Also Brandenburg – wie weiter? Ich wünsche Robert Crumbach und Stefan Roth ein glückliches Händchen bei der Nutzung von Kompromissmöglichkeiten. Aber bitte, bleibt beim Thema Frieden und Stationierung der Mittelstreckenraketen knallhart. Denn diese Positionen müssen verteidigt werden, auch in der Landesregierung.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (23. September 2024 um 21:04 Uhr)So sieht also WW-Demokratieverständnis aus. Ist die Trampolinspringerin in den Spannseilen ihres Geräts gelandet? Vor nicht allzu langer Zeit hat sie doch verlauten lassen, Politik so zu machen, wie es ihr passe. Sie könne ja bei nichtgefallen nicht wieder gewählt werden. Zu Herrn Raschke fällt mir nur ein, dass die Grünen tatsächlich eine (kurze) progressive Phase hatten. Das war bis kurz nach ihrer Parteigründung, da haben sie nämlich entdeckt, dass es eine Solarkonstante gibt (1361 Watt pro Quadratmeter, von denen können bis zu 1000 Watt auf dem Erdboden ankommen). Zu mehr hat es allerdings nicht gereicht. Zu den geistigen Kleingärtnern (Verzeihung, Kleingärtner!) Büning, von Notz und Nouripour spare ich mir konkrete Äußerungen.
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