KI bringt den nuklearen Frühling
Von Jörg KronauerErinnert sich noch jemand an den 28. März 1979? Das war der Tag, an dem es im Atomkraftwerk Three Mile Island bei Harrisburg im US-Bundesstaat Pennsylvania zu einer partiellen Kernschmelze kam. Radioaktive Strahlung wurde freigesetzt; bis zu 200.000 Einwohner flohen aus der Umgebung oder wurden evakuiert. Mit Müh und Not gelang es, den Reaktor wieder halbwegs unter Kontrolle zu bringen. Wie stark die Umgebung durch den Unfall verstrahlt wurde, ist bis heute ungeklärt. Die zuständigen staatlichen Behörden gaben – wen wundert’s – an, für die Bevölkerung habe zu keinem Zeitpunkt wirkliche Gefahr bestanden.
Wissenschaftler sahen das anders. 1990 kam eine an der Columbia Universität erstellte Untersuchung zu dem Resultat, die Zahl der Leukämiepatienten habe in der Nähe des Kraftwerks zugenommen. 1997 konnte der Epidemiologe Steven Wing dort eine bis auf das Zehnfache gestiegene Blutkrebsrate nachweisen. Der Nuklearunfall – der schlimmste in der Geschichte der USA – löste weithin Proteste aus. Über Jahrzehnte beantragte in den USA kein Unternehmen mehr die Genehmigung zum Bau eines neuen Atomkraftwerks.
Gut 45 Jahre nach dem GAU von Harrisburg macht Three Mile Island erneut von sich reden. Dort steht neben dem 1979 zerstörten Reaktor ein zweiter, der erst 2019 außer Betrieb ging – dies aus Rentabilitätsgründen, wie es damals hieß: Das in den USA boomende Fracking hatte den Erdgaspreis in den Keller getrieben; Gaskraftwerke produzierten deshalb erheblich billigere Elektrizität als Atomkraftwerke, und Three Mile Island machte dicht. Jetzt aber will der Betreiber Constellation Energy den Reaktor wieder nutzen. Er ist bereit, 1,6 Milliarden US-Dollar dafür zu investieren. Als Zeitpunkt für die erneute Inbetriebnahme wird das Jahr 2028 genannt.
Der Grund? Mit dem Atomstrom beliefert werden soll Microsoft. Der US-Softwarekonzern benötigt für die riesigen Rechenzentren, die er für Anwendungen künstlicher Intelligenz (KI) bauen will, gewaltige Mengen an Energie. Zugleich ist er bemüht, die CO2-Emissionen möglichst gering zu halten. Um beide Ziele zu erreichen, greift Microsoft nun auch auf Atomenergie zurück: Das Unternehmen wird sich mit Strom aus Three Mile Island beliefern lassen – mindestens 20 Jahre lang.
Der KI-Boom, das zeichnet sich immer deutlicher ab, geht in den Vereinigten Staaten mit einer Renaissance der Atomenergie einher. Microsoft ist nicht der einzige IT-Konzern, der auf Kernkraftwerke setzt. Bereits im März wurde bekannt, dass Amazon einen Datenzentrumscampus erwerben will, der unmittelbar an ein 40 Jahre altes Atomkraftwerk am Susquehanna River in Pennsylvania angeschlossen ist.
Next Era Energy denkt aktuell darüber nach, einen stillgelegten Atomreaktor in Iowa wieder in Betrieb zu nehmen, um Rechenzentren zu beliefern. Oracle wiederum will, um seinen Energiebedarf zu decken, Miniatomkraftwerke bauen, sogenannte Small Modular Reactors (SMR). Inzwischen zeichnen sich erste Proteste ab. »No nukes, not again!«, stand auf Plakaten, die Demonstranten Mitte August neben Three Mile Island in die Höhe hielten. Sie erinnerten an den 28. März 1979 und fragten: »Wer ist als nächster dran?«
Nicht nur in den USA, auch in den Vereinigten Arabischen Emiraten führt der KI-Boom zu unerwarteten Konsequenzen. In Abu Dhabi will Microsoft gemeinsam mit dem Konzern G 42 zwei neue KI-Zentren bauen. Weil der Bedarf an KI-Chips so rasant steigt, verhandeln zur Zeit die Halbleiterhersteller TSMC aus Taiwan und Samsung aus Südkorea mit den Emiraten über den Bau neuer Chipfabriken in dem Land, die die avanciertesten Halbleiter herstellen sollen.
Dies berichtet das Wall Street Journal, in dem von einem Investitionsvolumen von bis zu 100 Milliarden US-Dollar die Rede ist. Das Problem: Die Emirate gehören dem BRICS-Bündnis an und arbeiten auch sonst eng mit China zusammen. Die Vereinigten Staaten aber sind bestrebt, keinerlei modernste KI-Chips in die Volksrepublik gelangen zu lassen. Die Planungen, die Abu Dhabi vorantreibt, stoßen entsprechend auf Widerstand in Washington.
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Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (25. September 2024 um 10:28 Uhr)Den wichtigsten Zusammenhang hat der Autor jedoch offenbar nicht hinreichend begriffen, nämlich, dass das Smartphone die destruktivste Erfindung seit der Atombombe ist und dieser Erde den baldigen Exitus bringen wird. Allein die Quantitäten an spezifischen Rohstoffen, Energie und Wasser für die gigantischen Rechnerkapazitäten übersteigen nicht nur die Vorstellungskraft des inzwischen milliardenfach gänzlich entmündigten und suchtkranken »Users«, sondern alle physischen Grenzen dieses Planenten. Die Nukleartechnologie ist dabei nur eine Komponente dieses suizidalen Systems des Größenwahns.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (23. September 2024 um 21:35 Uhr)Gibt’s denn keine KI, die die Entropie abschafft? Wer mir zeigt, wie eine zerbrochene Kaffeetasse vom Fußboden zurückspringt und dort ganz ankommt, dem gebe ich eine Flasche Veltins aus.
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