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Aus: Ausgabe vom 24.09.2024, Seite 11 / Feuilleton
Nachruf

Ohne Ganzes geht es nicht

So einfach, so komplex: Zum Tod des großen marxistischen Kulturtheoretikers Fredric Jameson
Von Stefan Ripplinger
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Er liebte es zu überraschen: Fredric Jameson (1934–2024)

Eine düstere Vorahnung überkam mich schon im April, als ich ihm meinen Artikel zu seinem 90. Geburtstag schickte. Ganz gegen seine Art antwortete er mir nicht mehr. Nun ist aus der Vorahnung Gewissheit geworden: Fredric Jameson, der große marxistische Kulturtheoretiker, ist am Sonntag, dem 22. September gestorben.

Dieser Tod ist allein deshalb schon ein großer Jammer, weil er uns von den wesentlichen Büchern abschneidet, die noch zu erwarten gewesen wären. Jameson gehörte, wie Ernst Bloch, zu den wenigen Denkern, die im Alter immer noch besser werden. Es ließe sich durchaus darüber streiten, ob »Experimentum mundi« (1975) nicht Blochs bestes Buch ist. Und Jamesons Spätwerk »Allegory and Ideology« (2019) ist nicht nur keinen Deut schlechter als all seine Vorgänger, es steckt voller Überraschungen: Hier schreibt einer, der sich zuvor kaum mit Musik befasst hat, sehr kundig von Gustav Mahlers finsterer sechster Symphonie. Hier betritt einer, der sich in der Hoch- und Populärkultur des 19. und 20. Jahrhunderts blendend auskennt, unerschrocken die versunkene Welt von Dante und Edmund Spenser. Und er tut dies nicht etwa, um uns von seiner Gelehrtheit zu überzeugen. Vielmehr geht es, und zwar ganz systematisch, um eines seiner Lebensthemen: die Allegorie.

Das Thema hatte der US-Amerikaner Jameson von Erich Auerbach, seinem deutschen Doktorvater, geerbt. Die Allegorie, also der Versuch, einen Begriff in einem Bild zu fassen, war für Jameson eines der großen Probleme unserer Zeit. Einst ein ewiges »Sinnbild«, erscheint sie in Moderne und Postmoderne als Anzeichen für die Instabilität der Verhältnisse (und wird damit selbst allegorisch).

Geistige Kartierung

Am einfachsten hat Jameson das in seinem Durchgang durch den ersten Band des »Kapital« (»Representing ›Capital‹«, 2011) gefasst. Wie wir von Marx wissen, ist das Kapital zwieschlächtig. Mit der Entwicklung der Produktivkräfte hat es die Menschheit auf vorher unbekannte Höhen geführt und sie zugleich ins tiefste Elend gestürzt. Diese Doppelnatur schlägt auf alle Allegorien durch, die für das Kapital gefunden werden. Etwa ist der Kapitalist, den sich der Naive als einen »Unternehmer« vorstellt, schon bei Marx bloß der »Träger« eines ambivalenten Prozesses. Das Kapital ist, heißt es im »Manifest«, »keine persönliche, es ist eine gesellschaftliche Macht«.

Die Welt darzustellen, ist also gleichbedeutend mit der Erzeugung von Doppeldeutigkeit, ja Unsicherheit. Der Gedanke geht im Kern auf Jean-Paul Sartre zurück, der in seiner »Kritik der dialektischen Vernunft« ostentativ darauf besteht, dass wer handelt, »totalisieren«, also sich das Ganze entwerfen muss. Doch immer wenn eine Totalität erreicht ist, droht sie auch schon zu verdinglichen.

Bei Jameson heißt der Vorgang »cognitive mapping«, also geistige Kartierung. Was schon im Kleinen sehr schwierig ist, stößt im großen Maßstab – wenn wir etwa den Kapitalismus oder die Gesellschaft kartieren wollen – an seine Grenzen. Obwohl Jameson diese erkenntnistheoretische Schwierigkeit wie kein zweiter durchdacht hat, verfällt er nicht in das höflich »Mikropolitik« genannte Klein-Klein seiner Zeitgenossen. Im Gegenteil, er besteht vehement auf dem, wenn auch stets in sich widerspruchsvollen Unterfangen, das Ganze zu denken. In einem Vortrag von 1988 erklärt er, »dass ohne ein Konzept von sozialer Totalität (und von der Möglichkeit, ein ganzes Gesellschaftssystem umzuwälzen) keine sozialistische Politik im eigentlichen Sinn möglich ist«. Hier liegt die Kluft zwischen Jamesons Marxismus und der Postmoderne.

Die Postmoderne denkt zwar räumlich, aber nicht im Ganzen. Sie kombiniert Widersprüchliches, aber ohne den Widerspruch als solchen festzuhalten. »Die postmoderne Kunst kommt mit der Unmöglichkeit der Repräsentation gut zurecht, weil ihr die Totalität für immer aus dem Blick geraten ist, sie braucht sie also nicht mehr zu repräsentieren«, erläutert Jameson in einem Interview (»Jameson on Jameson«, 2007). In seiner luziden Schrift zur Postmoderne (1991; auch deutsch), mit der sein Name gewöhnlich verbunden wird, hat er diese tiefgreifenden kulturellen Verschiebungen skizziert und auch ökonomisch hergeleitet.

Abwesende Totalität

Leider wurde von mit Dialektik nicht Vertrauten Jamesons herbe Ansicht der Postmoderne gern mit einer konservativen Kulturkritik verwechselt. Doch alten Zeiten nachzutrauern, die angeblich gut waren, lag diesem Mann so fern wie nur irgendwas. Perry Anderson wagt in seinem lesenswerten Essay »The Origins of Postmodernity« (1998) die Behauptung, Jamesons Bemühung lasse sich schon mit Hilfe von Charles Olsons Gedicht »The Kingfishers« (Die Eisvögel, 1949) bestätigen. Damit ist nicht nur gemeint, dass Olson schon in den 50ern eine »Postmoderne« ausrief – die er als Widerstand gegen die »Western Box«, also die kulturimperialistische Moderne begriff –, sondern auch, dass dieses Gedicht auf höchst elegante ­Weise enorm weit Auseinanderliegendes zusammenspannt. Diese (postmoderne) Verschränkung von Nahem und Fernem, Hohem und Tiefem musste Jameson nahekommen, der es liebte, seine elaborierten Theorien anhand von Hollywoodfilmen oder Science-Fiction-Heftchen zu erörtern. In diesem Sinn war er selbst ein Postmoderner.

Man schaue sich nur an, auf welch hohem Niveau er (in »Archaeologies of the Future«, 2005) den großen Science-Fiction-Autor Philip K. Dick analysiert, mit dem er übrigens in Austausch stand. Die Fähigkeit, das scheinbar Triviale nach Art der Quantenmechanik zu behandeln und das allgemein als schwierig Bekannte (Kant, Hegel) auf verblüffend simple Oppositionen zu reduzieren, ohne ihm etwas von seiner Komplexität zu nehmen, hat Jameson zum aufregendsten Theoretiker unserer Zeit gemacht. Er liebte es zu überraschen.

Jameson schrieb mir einmal, er denke darüber nach, ob es sich beim Angriff auf das US Kapitol um Faschismus gehandelt habe. Wenn es irgendeinen Theoretiker gibt, der diese Frage auf intelligente Weise hätte beantworten können, dann war er es. Denn was immer er an kulturellen Gegenständen demonstrierte, hatte praktischen Sinn. Noch wenn er über einen Roman von Honoré de Balzac oder einen Film von David Cronenberg schrieb, ging es ihm stets um die große »abwesende Totalität«, den Kapitalismus, und darum, in ihm und gegen ihn zu bestehen.

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