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Aus: Ausgabe vom 24.09.2024, Seite 15 / Natur & Wissenschaft
Wissenschaftsbetrieb

Eingebildete Kontrolle

Über organisierte Selbsttäuschung in der Wissenschaftsförderung
Von Daniel H. Rapoport
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Funktioniert reibungsloser als die Wissenschaft: Lottospiel

Von keinem Gebiet versteht die Wissenschaft so wenig wie von sich selbst. Es liegt an denselben Umständen, die uns hindern, Klarheit über uns selbst zu erlangen. Wir können uns vornehmen, so ehrlich mit uns zu sein, wie wir wollen, »brutalstmöglich« (Roland Koch): Ganz werden wir nie den letzten Zweifel ausräumen, dass unser Selbstbildnis von Wünschen und äußeren Zuschreibungen verfälscht wird, und nie ganz Gewissheit erlangen, dass wir alle Gründe kennen, aus denen wir glauben, so zu sein, wie wir zu sein glauben.

So auch in der Wissenschaft. Obwohl es eine Menge Metawissenschaft gibt – also Wissenschaft, die sich mit Wissenschaft beschäftigt: Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftstheorie etc. –, kann Wissenschaft sich trotz aller Anstrengungen nicht untersuchen wie einen außer ihr befindlichen Gegenstand. Sie wird von Sehnsüchten, fragwürdigen Selbstbildern und Ängsten in ganz derselben Weise verführt und getrieben wie jeder Mensch. Es wird wohl daran liegen, dass sie von Menschen zugleich gemacht und verstanden, also auch missverstanden wird.

Besonders anfällig ist hierbei das Feld der Wissenschaftsförderung; Wunschdenken und Angst vor Kontrollverlust bestimmen es. Es geht um Prozesse, in denen entschieden wird, wie viel Geld in welche Forschungsrichtung und letztlich an welche Wissenschaftler vergeben wird. Die erste und wahrscheinlich tiefste Selbsttäuschung der Wissenschaft liegt darin, dass sie es überhaupt für nötig hält, sich selbst durch Steuerung von Geldströmen zu lenken. Je mehr man über diese scheinbare Notwendigkeit nachdenkt, desto marottenhafter wirkt sie. Natürlich brauchen unterschiedliche Disziplinen – und damit verbunden verschieden aufwendige Untersuchungen – jeweils angemessene Budgets. Von solchen Differenzen soll hier nicht die Rede sein, vielmehr davon, wie entschieden wird, welche Disziplinen überhaupt wichtig sind und welche Forschungsprojekte Aussicht auf Erfolg haben.

Das läuft wie folgt: Vom Gesamtbudget, das die Bundesrepublik für Forschung und Entwicklung aus allgemein erhobenen Steuern zur Verfügung stellt, wird nur ungefähr die Hälfte direkt an die Forschungseinrichtungen gegeben. Um den Rest – die sogenannten Drittmittel – müssen Wissenschaftler sich mittels buchdicker Anträge bewerben. Die werden von einem Heer von Gutachtern gelesen und bewertet. Einen Teil der Gutachterarbeit übernehmen die Wissenschaftler selbst, der andere Teil wird in Ministerien und Projektträgern geleistet. Wir reden über Tausende Menschen, deren Arbeit allein im Durchsehen und Einstufen von Anträgen besteht.

Worin nun die Selbsttäuschung liegt? Nicht darin, dass eine enorme Bürokratie entstanden ist, und auch nicht darin, dass ein Vorgehen, bei dem letztlich nur Forschung durchgeführt werden kann, die den Geldgebern frommt, die grundgesetzlich garantierte Freiheit der Forschung de facto abgeschafft hat. Beides ist bloß Folge der Selbsttäuschung, nicht die Täuschung selbst. Die liegt in der Einbildung, dass das Antragswesen in der Wissenschaft nicht nur seine Richtigkeit, sondern seine Notwendigkeit habe. Sobald man fragt, warum es notwendig sei, wird es erstaunlich dünn. Im Grunde verengt sich die Rechtfertigung für das munter wuchernde Antragswesen auf eine einzige Behauptung, die nämlich, man müsse die »Qualität der Forschung« sicherstellen.

Der Witz ist: Selbst die Forschung spricht dagegen, dass die Qualität der Forschung – was immer das eigentlich sein soll – durch Begutachtung von Forschungsanträgen besser würde. Eine Studie, publiziert in der Fachzeitschrift eLife, hat für mehr als 100.000 Forschungsprojekte den Zusammenhang zwischen Bewertung des Antrags und den später erzielten Ergebnissen untersucht. Das Ergebnis war, dass Projekte, die im Bewilligungsverfahren zu den besten 20 Prozent gehörten und damit gefördert wurden, am Ende um kaum ein Prozent besser waren als zufällig gewählte Projekte. Ein Prozent besser als der Zufall. So gewaltig darf man sich die Effizienz der gesteuerten Geldvergabe in der Wissenschaft denken. Selbsttäuschung in Zahlen gemessen.

Die zweite Täuschung über die prinzipielle Notwendigkeit von Drittmitteln besteht in der Einbildung, die Wissenschaft könne – womöglich sogar »objektiv« – die Qualität von Forschungsvorhaben einschätzen und in Rangfolgen bringen. Nehmen wir einmal das ganze Antrags- und Förderwesen als gegeben und wohlbegründet. Wie könnte man es so durchführen, dass es sowohl gerecht als auch qualitativ hochwertig als auch effizient würde? Wie können wir ausschließen, dass Vorurteile die Bewertung der Anträge verfälschen? Vorurteile wie: Der Gutachter kennt die Antragssteller persönlich (»Old-Boy-Netzwerke«), die Antragssteller kommen aus einer prestigereichen Institution, das Wissenschaftsfeld der Antragsteller ist gerade schwer in Mode. Auch ethnische Herkunft, Geschlecht, Religion, Weltanschauung und oft genug auch das Alter der Antragsteller beeinflussen die Vergabe von Drittmitteln.

Einen Vorschlag für ein anderes Verfahren haben unlängst Finn Lübber und Sören Krach zusammen mit ihren Kollegen von der Uni Lübeck gemacht. Kein Scherz: eine frühe Lotterie. Man wirft einfach am Beginn des Antragsverfahrens sein Los in den Topf und erhält eine Chance, gezogen zu werden. Die Ausgelosten können dann einen Antrag formulieren, der ebenfalls begutachtet wird, aber bei dem die Chance auf Bewilligung nun ungleich höher ist. Die Autoren haben das Verfahren nicht nur ersonnen, sondern auch den Vorteil des Verfahrens hinsichtlich Qualität, Effizienz und Reduktion von Benachteiligung in Simulationen aufgezeigt.

Womit wir wieder zu den Kontrollillusionen zurückkehren: Natürlich fühlt sich eine Lotterie nach Kontrollverlust an. Die Idee erscheint Wissenschaftlern (besonders den etablierten) aberwitzig. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis sie verstehen, dass der wohldosierte Zufall, wenn zwar nicht dem einzelnen, aber doch dem Gesamtsystem mehr Kontrolle ermöglicht, nicht weniger.

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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

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