Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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Aus: Ausgabe vom 25.09.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
1. Frankfurter Armutskonferenz

»Viele befürchten Stigmatisierung«

Über die Nichtnutzung sozialer Leistungen in Deutschland. Ein Gespräch mit Anne van Rießen
Von Milan Nowak, Frankfurt am Main
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Immer mehr Menschen sind auf Tafeln und andere soziale Einrichtungen angewiesen (Essen, 9.9.2024)

Warum waren Sie bei der 1. Frankfurter Armutskonferenz?

In meiner Forschung befasse ich mich mit personenbezogenen sozialen Dienstleistungen und der Perspektive von Menschen, denen diese zustehen. Mich interessiert, ob und welchen Nutzen Menschen von sozialen Dienstleistungen haben und wie sie diese Angebote in Anspruch nehmen. Eine andere Frage ist: Welchen Schaden kann das Annehmen von sozialen Dienstleistungen mit sich bringen? Daneben analysiere ich Gründe für die Nichtnutzung von solchen Leistungen. Daher war die Konferenz für mich von Interesse.

Welche Leistungen bleiben ungenutzt?

Gute Frage. Das zu erheben, ist nicht ganz einfach. Die Nichtnutzung monetärer Leistungen wird in Deutschland zum Großteil anhand aufwändiger Mikrosimulationen ermittelt. Trotz Unsicherheiten aufgrund möglicher Fehlerquellen bewegen sich die Quoten in verschiedenen Studien in einem ähnlichen Bereich und sind auch im Zeitablauf relativ stabil. Sie zeigen, dass die Nichtnutzung beispielsweise der Grundsicherung oder Leistungen nach dem Bundes- und Teilhabegesetz keine Randerscheinung ist.

Warum ist das ein Problem?

Erstens aus sozialpolitischer Perspektive, denn die mit den Leistungen verbundenen Zielstellungen, wie die Verringerung von Armut oder die Teilhabe an Gesellschaft, werden so nicht erreicht. Damit einhergehend kann die Leistungsfähigkeit des Sozialstaats in Frage gestellt werden, denn Nichtnutzung kann als Indiz für die Unwirksamkeit der angebotenen Leistungen verstanden werden. Das würde bedeuten, dass die Leistungen, so wie sie gegenwärtig konzipiert sind und in Anspruch genommen werden, den Menschen, die sie benötigen, nicht wirklich helfen. Oder dass der Nutzen so gering ist, dass andere Überlegungen überwiegen. Zweitens ist die Inanspruchnahme von Anfang an eine Herausforderung: Aufgrund unterschiedlicher Barrieren können viele Menschen nicht nur die ihnen zustehenden sozialen Rechte nicht verwirklichen, sondern müssen mit materiellen Einschränkungen unterhalb des Existenzminimums leben. Ihre bestehenden finanziellen Notlagen verschärfen sich.

Was sind die Gründe dafür, dass gewisse Leistungen oftmals nicht in Anspruch genommen werden?

Das hat verschiedene Ursachen: Ältere Menschen zum Beispiel nehmen häufig die Grundsicherung nicht im Anspruch, weil sie Sorge haben, dass ihre Kinder verpflichtet werden, sie finanziell zu unterstützen. Jugendlichen ist es unangenehm, wenn öffentlich wird, dass sie für die Teilnahme an der Klassenfahrt oder im Sportverein finanzielle Unterstützung in Anspruch nehmen. Andere wiederum wissen nicht von ihrer Anspruchsberechtigung oder die Antragsstellung erweist sich als zu komplex und langwierig. Auch hört man von Menschen, dass sie die Bedürftigkeitsprüfung, also die immer wiederkehrende Darstellung der eigenen prekären Situation, als belastend und unwürdig erleben. Schließlich nehmen viele die Leistungen aus Scham und Angst nicht in Anspruch – sie fürchten gesellschaftliche Stigmatisierung.

Was muss geschehen, damit mehr Menschen die ihnen zustehenden Leistungen beanspruchen?

Letztlich gilt es – neben einer Vereinfachung der Inanspruchnahme und Transparenz über die Leistungen – die Rechte der Menschen zu betonen. Es geht um eine Demokratisierung der Inanspruchnahme, die Berechtigte nicht zu Bittstellern macht, sondern zu Menschen, die ihre Rechte verwirklichen und an ihrer Ausgestaltung beteiligt werden. Das ist eine Voraussetzung, damit das grundgesetzliche Sozialstaatsprinzip umgesetzt werden kann: Gewährleistung von sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit.

Anne van Rießen ist Professorin für Methoden Sozialer Arbeit an der Hochschule Düsseldorf

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