Flucht vor dem Blackout
Von Reinhard LauterbachDie vielfachen russischen Angriffe auf das ukrainische Stromnetz haben offenbar eine neue Fluchtwelle Land ausgelöst. Die ukrainische Nationalbank schrieb vergangene Woche, dass bereits etwa 400.000 Menschen vor allem aus Charkiw ihre Wohnsitze verlassen hätten. Ob alle nach Westeuropa ziehen oder vielleicht nur bis aufs Land, wo es in den Dörfern traditionelle Öfen zum Heizen gibt, ist unbekannt. Die UNO rechnet mit bis zu einer Million neuer Flüchtlinge im Herbst und Winter.
Das ukrainische Energieministerium hat zur Stromversorgung im kommenden Winter in der vergangenen Woche eine Prognose veröffentlicht, die noch hinter der des UN-Menschenrechtsbüros aus der selben Woche zurückbleibt: Nicht vier bis 16 Stunden täglich könne im Winter in den Wohnvierteln der Strom abgeschaltet werden, sondern zwischen 16 Stunden als optimistischster Variante und bis zu 20 Stunden am Tag. Damit werden insbesondere die Hochhaussiedlungen in den Großstädten faktisch unbewohnbar. Es droht der Ausfall nicht nur von Licht und Internet, sondern auch der Fernheizung und des fließenden Wassers sowie der Aufzüge. Frühere Berechnungen ukrainischer Energieversorger besagten, dass 14- oder 16stöckige Hochhäuser maximal noch bis zur siebten Etage beheizt werden könnten.
In dieser Situation hat der ukrainische Außenminister Andrij Sibiga Alarm geschlagen, Russland könne die Umspannwerke bei den drei noch laufenden ukrainischen AKW angreifen. Nach einer Note, die Sibiga an die Internationale Atomenergieagentur IAEA sandte, drohe in diesem Fall ein nuklearer Störfall mit »unabsehbaren Auswirkungen für die ganze Welt«. Aus dieser alarmistischen Prognose ließ der frühere ukrainische Energieminister Jurij Kostenko etwas die Luft: Er schrieb auf den sozialen Netzwerken, ein nuklearer Störfall sei unwahrscheinlich. Aber der Ausfall der Umspannwerke führe dazu, dass die Reaktoren sofort heruntergefahren werden müssten, um einen solchen zu vermeiden. Was die EU kurzfristig an Aggregaten und Verbindungsleitungen zugesagt hat, würde nicht ausreichen, um den Ausfall auszugleichen, nämlich den der Hälfte der verbliebenen Stromerzeugung der Ukraine.
Parallel zu diesen düsteren Prognosen für die kommenden Monate verschlechtert sich die militärische Lage der ukrainischen Truppen praktisch an der ganzen Front. Die Stadt Wugledar am Südrand der Donbassfront steht offenbar kurz vor dem Fall. Ukrainische und russische Militärblogger berichten übereinstimmend, dass Stoßtrupps bereits in die Randbezirke der Stadt eingedrungen seien. Wichtiger sei aber, dass Truppen außerhalb der Stadt kurz davor stünden, die letzte asphaltierte Straße aus der Stadt heraus abzuschneiden. Die ukrainische Parlamentsabgeordnete Marjana Bezuglaja schrieb, sie rechne mit dem Fall von Wugledar und der Städte Selidowe (nahe Pokrowsk) und Torezk (weiter nordöstlich). Pokrowsk könne sich noch maximal bis Ende des Jahres halten, schrieb die in den Fronttruppen gut vernetzte und mit der Stimmung unter den Soldaten vertraute Politikerin.
Unterdessen wirbt der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij international weiter für seinen sogenannten Siegesplan. Nach einem Bericht der Londoner Times soll er – neben der erwünschten Freigabe von Angriffen auf Ziele tief in Russland mit westlichen Waffen – die Forderung nach Sicherheitsgarantien führender NATO-Staaten für die Ukraine analog zu denen der Beistandsklausel des NATO-Vertrags enthalten. Dies würde implizieren, dass die Ukraine auf einen direkten Beitritt verzichten würde. Vieles an den ukrainischen Erklärungen ist aber inhaltlich konfus und kann genausogut Desinformation sein. Selenskij sollte am Dienstag (Ortszeit) vor der UN-Vollversammlung auftreten und anschließend seinen Plan US-Präsident Joseph Biden und den beiden Nachfolgekandidaten Kamala Harris und Donald Trump vorstellen. Einstweilen revidierte er seine Äußerung der vergangenen Tage, mit seinem »Siegesplan« könne der Krieg bereits im November zu Ende sein. Der neueste Stand von Selenskijs Prognosen ist, dass der Krieg noch bis 2025 oder 2026 weitergehen müsse, damit ihn die Ukraine gewinnt.
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Leserbrief von Rainer aus Potsdam (25. September 2024 um 16:26 Uhr)Vor der UN hat der russische Vertreter dem Westen die Leviten gelesen und ihn seine Verwicklungen und sein Verschulden an dem Konflikt vor Augen geführt. Der Angriff auf die Infrastruktur der Ukraine dient der Beeinträchtigung des militärisch-industriellen Komplexes und wird solange fortgesetzt, bis der Konflikt durch Verhandlungen beendet ist. Diese werden vom Marionetten-Prädidenten und seinen Sponsoren im Westen derzeit abgelehnt. Daher ist das Vergießen von Krokodilstränen dummdreist und demagogisch.
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