Der überfällige Faktor
Von Norman PhilippenPunk ist eine ziemlich weiße Pimmelkultur, die sich dennoch so gut wie überfällig auch als »Herstory« erzählen lässt. Etwa von der »Punkprofessorin« Vivien Goldman, für die Punk so viel wie Chancengleichheit bedeutete, als sie dessen Ausbruch im britischen Epizentrum als Musikjournalistin miterlebte. Schließlich war, was so lange nicht ging, nun drin: Girls in Bands. Girls wie Poly Styrene von den X-Ray Spex, Viv Albertine von The Slits und Gina Birch (The Raincoats) in London, oder – von diesen dort als blutjunges Runaway animiert – ab 1978 Annette Benjamin mit Hans-A-Plast in Hannover.
Vor allem auf diese vier Bands konzentriert sich die aktuell in der Arte-Mediathek zum Streaming zur Verfügung stehende Dokumentation »Punk Girls. Die weibliche Geschichte des britischen Punk«. Sie zeigt die Punketten in einstiger wie heutiger Entschlossenheit und lässt mit Riot-Grrrl-Pionierin Kathleen Hanna (Bikini Kill) sowie Estella Adeyeri und Stephanie Phillips von Big Joanie (seit 2013) drei Protagonistinnen zu Wort kommen, die zeigen, dass Girl Punk auch als bald 50jährige not dead ist, sondern noch viele Pläne und Töne hat.
Das war schon mal gefährlicher. Wurden die Slits in den 1970er Jahren noch auf Londons Straßen von Männern angegriffen, die sich von der für unweiblich erklärten Selbstermächtigung der jungen Frauen provoziert fühlten, lässt es sich heute dort wie andernorts relativ risikolos in einer der mittlerweile wieder zahlreichen Frauenpunkbands spielen. So kann Filmemacherin Christine Franz ihre auf einflussreiche, aber wenige Punkpionierinnen und drei ihrer Erbinnen fokussierende, britische Girl-Punk-Geschichte nicht in der möglichen Breite, aber – im Kontext der sich aus der Mitte der 1970er Jahre herrschenden, hoffnungslosen Gesellschaftslage gespeisten Anarchy in der UK – als nur kommerziell nicht besonders erfolgreiche Emanzipationsstory erzählen. Denn Plattenverkäufe hin, bisheriger Platz in der Punkgeschichte her: Dass eine Frau für eine Ansage wie »Some people think little girls should be seen and not heard, but I think ›Oh bondage, up yours!‹ One – two – three – four!« statt von der Bühne gebuht, gefeiert wird, war vor (Girl-)Punk nicht drin. Ein revolutionärerer Akt als der damals wie heute dominierende Weißerpimmelpunk war es ohnehin.
In Gänze könnte die für eine Sleaford-Mods-Dokumentation vielgelobte Regisseurin die Herstory vielleicht mit einem wünschenswerten zweiten Teil erzählen. Weil, das hat auch die ansonsten so lala gelungene, kürzlich im Öffentlich-rechtichen ausgestrahlte Mehrteilerdoku »Millennial Punk. Eine Subkultur in Zeiten der Digitalisierung« gezeigt, vor allem die Pennälerpimmel den gar nicht mal so progressiven Punk nach wie vor maßgeblich prägen. Trotz der mittlerweile international zahlreichen All-Girl beziehungsweise wenigstens »Female-Fronted«-Punkbands. Dann könnten selbst tote Hosen wie Andreas Frege, der in der Millennial Punkdoku meinte, Frauen hätten in den Punkszenen immer ganz frei tun können, was sie wollten, eines besseren belehrt werden. Und vielleicht die aus männlicher Perspektive auserzählte Punkposse am Ende noch um den überfälligen Pussyfaktor ergänzt werden, ohne den diese subkulturelle Himstory unvollständig bleibt.
»Punk Girls. Die weibliche Geschichte des britischen Punk«, Arte, 3. Oktober 2024, 0.50 Uhr; bis 12. Dezember 2024 in der Mediathek
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