Mit letztem Einsatz und höchstem Opfer
Von Erhard Korn»Das Volk, ein von den Ereignissen ewig überraschter Chor, schlug sich willig gegen die Feinde seiner Herren.« So sah Heinrich Mann in seinem Roman »Der Untertan« den künftigen Krieg voraus, vorbereitet durch die im Roman beschriebene und karikierte Mitarisierung der Gesellschaft. Der im Januar 1914 begonnene Abdruck in einer Münchner Illustrierten wurde bei Kriegsbeginn im August abrupt gestoppt.¹ Nicht Kritik war jetzt gefordert, sondern eine weitere Militarisierung der Gesellschaft.
Die Zentralfigur des Romans lernt als »Leibfuchs« zu dienen, seine Ehre aus derjenigen der schlagenden Verbindung und der Nation zu ziehen. Seine rituelle Aufnahme in den Kriegerverein wird ihm ebenso zum persönlichen »Triumph« wie dann die Einweihung eines patriotischen Denkmals. Den Kriegerverein nutzt Diederich Heßling als unschätzbare »Operationsbasis«, von der aus auch Primaner, »christliche Jünglingsvereine« und »christliche Handlungsgehilfen« mobilisiert werden.
Bollwerk gegen die Sozialdemokratie
Die nach dem Krieg von 1870/71 oft »spontan entstandenen patriotischen Geselligkeits-, Unterstützungs- und Begräbnisvereine« von Kriegsveteranen wuchsen im Zuge der Einführung der dreijährigen Wehrpflicht zu Sammelbecken von Reservisten. Angehörige waren zu 80 Prozent Angehörige der »ärmeren und weniger gebildeten Volksschichten«, die von einer Zeit schwärmten, in der »des Königs Rock seinem Träger ein Ansehen gab, das später nie wiederkehrte«.² Prestigeträchtig durften sie bei Feiern eine Uniform tragen und hinter ihrer geweihten Fahne marschieren.
Da »die starken königstreuen und konservativen Elemente, welche in den Kriegervereinen vorhanden sind, vorzugsweise geeignet seien, ein Bollwerk gegen die Sozialdemokratie zu bilden, und es von Wichtigkeit sei, die Reserve- und Landwehrmänner vor den sozialdemokratischen Einflüssen zu bewahren«, vor allem aber, um sie lenken und kontrollieren zu können, verlangte Bismarck ihre Unterstützung. Seit 1887 gehörte die Förderung des Kriegervereinswesens zu den Dienstobliegenheiten der Offiziere, von denen die Reservisten bei Beendigung der Dienstzeit von den Offizieren zum Eintritt aufgerufen wurden.
Reserveoffiziere übernahmen Führungsrollen, vom Kaiser selbst dazu aufgerufen. 1913 besaßen fast 90 Prozent der Vorsitzenden der Verbände einen Offiziersrang. Die Behörden erhielten Anweisung, die Vereine zu unterstützen, da sich »auf Grund der jedem Soldaten angestammten Liebe für König und Vaterland der patriotische Sinn mit Leichtigkeit rege erhalten« lasse.
Im Zusammenspiel mit Militär- und Zivilbehörden gelang ihr Ausbau zum »Bollwerk gegen das Eindringen sozialistischer Ideen in den Beurlaubtenstand«, als Wahlhilfsorganisation der »Ordnungsparteien« und als Mittel zur »Abschirmung großer Teile der Arbeiterschaft in Landwirtschaft und Industrie gegen die freien Gewerkschaften«.
Im Jahrzehnt vor dem (Ersten) Weltkrieg entwickelten die Kriegervereine zusammen mit dem Kriegsministerium zudem ein Programm zur Erfassung der Jugend, »die unmittelbar nach Verlassen der Volksschule in Jugendwehren oder Turnvereinen organisiert und im Winter zu Unterhaltungsabenden zusammenzurufen werden sollte«, was jedoch nicht flächendeckend gelang. Erfolgreich dagegen waren die Kriegervereine bei der »Abschirmung« der Landarbeiter gegen die Organisationsversuche auch der Gewerkschaften, so dass die ländliche Bevölkerung weiterhin nicht nur ein Reservoir für die Armee, sondern auch für reaktionäre Politik blieb.
Die über 30.000 Kriegervereine (1913) mit ihren fast drei Millionen Mitgliedern – mehr als Gewerkschaften und SPD besaßen – waren präsent in jedem Dorf. Sie bildeten eine »Armee des Kaisers im Bürgerrock«, die »der revolutionären und vaterlandsfeindlichen Bewegung der Sozialdemokratie eine monarchische und nationale Volksbewegung« entgegensetzte, so Leutnant d. R. Alfred Westphal, der faktische Vorsitzende. Die Mitglieder verpflichteten sich, den Eid auf den Kaiser auch im bürgerlichen Leben zu erfüllen und deshalb die Sozialdemokratie nicht zu unterstützen. Daher wurden von den Kriegervereinen auch sozialdemokratische Wahlversammlungen und andere Aktivitäten zugunsten der »Terroristen« überwacht.
Mit der Kyffhäuser Korrespondenz, die »auf die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Wehrkraft zu Lande und zur See sowie der Ausdehnung des Deutschtums über See, insbesondere aber gegen die Ausbreitung der Sozialdemokratie« hinwirken sollte und sowohl die lokalen Vereinszeitungen als auch die Regionalpresse belieferte, gelang doch eine erhebliche propagandistische Breitenwirkung.
Etwa fünf Millionen Männer und Jungen wurden 1914 in solchen vaterländischen Wehrverbänden erfasst, die durch ihre flächendeckende Präsenz eine herausragende Rolle bei der Herausbildung eines »Sozialmilitarismus«, also der inneren Militarisierung der Gesellschaft spielen konnten.³
Kultische Totenverehrung
Über 100.000 Kriegerdenkmäler gibt es in den gut 10.000 Gemeinden der Bundesrepublik. Sie verlagerten das Gedenken an Verstorbene aus der Kirche zu weltliche Kultstätten und übertrugen Bildersprache und Opfermystik der Religion in die Politik. Aus der Trauer wurde Aufruf zum Opfertod im nächsten Krieg: »Unsere Nachkommen sollen einst vor den Denkmälern für unsere Gefallenen erschauernd fühlen, wie ihre Väter zu sterben wussten und wie wir aus ihrem Tode die Verpflichtung zu neuer Erhebung uns nehmen.«
So schrieb die Württembergische Kriegerzeitung 1922 zum »Sedantag«, dem als Nationalfeiertag begangenen Jahrestag der Kapitulation Napoleons III. am 2. September 1870. In der nationalen Begeisterung nach 1870 wollte keine Stadt und kein Dorf ohne Kriegerdenkmal sein. Ziel war die »lokale Verankerung des nationalen Gesinnungspatriotismus«.⁴
Aus den Tausenden Denkmälern ragt das »Taube-Denkmal« im schwäbischen Pleidelsheim heraus. Aus Carrara-Marmor geschaffen und dem Geburtsort seines Vaters gestiftet hat es der Hofbildhauer Ludwig von Hofer, der Verherrlicher der württembergischen Herrscher, den 1870 die Kriegsbegeisterung erfasste. Am 5. Juli 1885 wurde das Kriegerdenkmal enthüllt. Morgens um 5.00 Uhr begann das feierliche Programm mit Tagwache und Böllerschüssen, Gottesdienst und Umzug, berichtete die Lokalpresse: »Von allen Seiten strömten Krieger- und Veteranenvereine herbei, hohe Gäste aus nah und fern stellten sich ein, die gesamte Schuljugend erhielt zur Weihe des Tages eine blitzblanke Silbermark. So groß war die Zahl der Teilnehmer, dass einem Anwohner das Dach seines Hauses abgedeckt wurde, um Platz für die Zuschauer zu schaffen.«
Die Veteranen- und Kriegervereine und alle anderen Teilnehmer feierten auf dem Festplatz bei Ansprachen, Gesang und geselliger Unterhaltung das große Ereignis. Das ausliegende Gästebuch belegt in den ersten Jahren einen Besucherstrom, der dieses Denkmal zur mit Postkarten und Andenkenkitsch beworbenen touristischen Attraktion machte.
»Der Krieg ist furchtbar, aber schön ist die Begeisterung«, schrieb Kronprinz Wilhelm 1870 über sein Volk im Siegesrausch. Noch vier Jahre zuvor hatte Württemberg selbst zusammen mit Österreich Krieg gegen das von Frankreich unterstützte Preußen geführt. Moderne Waffen richteten 1870, so Kronprinz Wilhelm, ein »schauderhaftes Elend« an, bei dem Tausende Verletzte tagelang unversorgt auf den Schlachtfeldern herumlagen. Der Gefangennahme von Kaiser Napoleon III. in Sedan folgte im November 1870 die Belagerung des sich verzweifelt wehrenden Paris. Unter den fast 15.000 bei einem Ausbruchsversuch der Franzosen bei Champigny Anfang Dezember Gefallenen waren auch die fast noch jugendlichen Von-Taube-Brüder: Erich wurde verwundet, Axel eilte zu ihm und wurde ebenfalls von einer Kugel getroffen. Axel starb sofort, Erich zwei Tage später im Lazarett. Kronprinz Wilhelm besuchte ihn am Totenbett.
Beim Begräbnis in Stuttgart am 10. Dezember 1870 trug der Stuttgarter Prälat und Oberhofprediger Karl Gerok, seit 1868 »von Gerok«, ein den Tod verherrlichendes Gedicht vor: »Schön, wenn sie zusammen wallen / Durch die Welt im Jugendmuth / Schön, wenn sie zusammen fallen / Während Kriegshörner schallen / Einer in des andern Blut.«
Der vom Denkmal in Lebensgröße dargestellte gemeinsame Tod der Brüder Erich und Axel von Taube geriet zur Heldenlegende, propagandistisch ausgeschlachtet als Beispiel für opferbereiten Patriotismus, fast schon als Opfergabe Württembergs an das neue Reich. Denn die Grafen Erich und Axel von Taube waren Söhne des Außenministers Graf Adolf von Taube und Jugendfreunde des Kronprinzen.
Der »heilige Krieg«
Von Gerok hatte bei Kriegsbeginn 1870 aufgerufen, den Franzosen »die roten Hosen mit Gott noch röter zu färben« und als Sieger in Paris einzuziehen. Zusehends stellten sich die evangelischen Landeskirchen in den Dienst solcher Kriegspropaganda. Sie waren längst, wie Wilhelm Liebknecht sagte, ein »Staatsinstitut neben Kaserne und Schule« geworden, das den Krieg zum Religionskrieg des frommen Preußens gegen das libertinistische Frankreich erklärte. Den Sieg habe man »Gottes Führung« zu verdanken, verkündete der Kaiser nach Sedan und erklärte sich so, ganz in Übereinstimmung mit den Lehren der Staatskirche, zu Gottes Vertreter auf Erden.⁵ Mit »Jesu Patriotismus« wurde die Forderung nach dem »letztem Einsatz und höchstem Opfer« begründet, die Bereitschaft zum Opfertod. Zunehmend verband sich diese Opferkultur mit imperialistischer und sozialdarwinistischer Überheblichkeit zu einer »nahezu bedingungslosen Legitimierung des Krieges«. Als kulturell, aber auch biologisch-machtmäßig aufsteigendes Volk habe Deutschland die Aufgabe, auch durch Krieg Sittlichkeit und Kultur durchzusetzen, verkündete 1906 der prominente Theologe Reinhold Seeberg. Der (Erste) Weltkrieg geriet der evangelischen Kirche dann vollends zum »heiligen Krieg«, wie der bayerische Oberkonsistorialpräsident predigte. »Gott ist der Gott der Deutschen. Wir sind die Auserwählten Gottes unter den Völkern«, verkündete etwa der Königsberger Theologieprofessor Alfred Uckeley, der 1933 konsequenterweise Mitglied der NSDAP wurde.
Von »adligem Dasein« und Erneuerung war in der vor dem Krieg aufblühenden alternativen akademischen Jugendbewegung die Rede. Der »Wandervogel« verachtete eine vaterländische Gesinnung als billige Beschwörung vergangener Heldentaten. Er forderte statt dessen die persönlichen Bereitschaft, »für die Rechte des Volkes mit dem Leben einzutreten« und »frisches reines Blut dem Vaterland« zu leihen, wie der Aufruf zum Jugendtag auf dem Hohen Meißner im Oktobers 1913 formulierte.⁶ Begeistert zogen viele Jugendbewegte 1914 in den Krieg. Bei Langemarck stürmten »junge Regimenter« – angeblich unter Singen des Deutschlandlieds – in den Tod und wurden im »Langemarck-Mythos« zu Vorbildern der akademischen Rechten und jungen »Nationalsozialisten«.
Hauptkampfplatz Schule
Antimilitaristische Jugendarbeit wurde dagegen streng überwacht und behindert, besonders in Preußen. Als das nicht half, verbot man 1908 Jugendlichen reichsweit jegliche politische Tätigkeit – wozu selbstredend die vaterländische Betätigung nicht gezählt wurde. Für die Bestrebungen, »die sozialdemokratische Jugendorganisation zu dem Ziel der Bekämpfung des Militarismus zu benutzen«, wurde Karl Liebknecht 1907 zu eineinhalb Jahren Festungshaft verurteilt. Da die »Weltpolitik ungezählte Konfliktmöglichkeiten in sich birgt« und »kriegerische Verwicklungen sich in absehbarer Zeit entwickeln können«, sei Antimilitarismus Hochverrat, befand das Gericht.⁷ Kaiser Wilhelm rief besorgt dazu auf, die Schulen gegen solche Bestrebungen zu mobilisieren und erklärte sie zum »Hauptkampfplatz«. Er regte die Bildung des »Ausschusses zur Förderung der Wehrkraft durch Erziehung« an. Dieser forderte die Lehrkräfte auf, neben der »militärischen Ertüchtigung durch Leibeserziehung« das Wehrkraftgefühl zu wecken, um, »wenn der Kaiser ruft, Blut und Leben zu opfern«.⁸
Auch Universitäten sollten zu »Pflegestätten des nationalen Gedankens« werden, wie Kundgebungen von Hochschullehrern 1901 forderten. Das Großmachtstreben begründeten die meisten Professoren »wissenschaftlich«, sei es ökonomisch oder historisch. Selbst die Germanisten propagierten beim Germanistentag 1913 die »Vernichtung des Undeutschen in der Sprache« und »die Überlegenheit des deutschen Wesens«.
Die Armee konkurrierte im parlamentarisch verbrämten »Militärdespotismus« (Karl Marx) mit dem Erziehungswesen darum, »Schule der Nation« (Helmuth von Moltke) zu sein. In den Volksschulen standen religiöse Inhalte im Vordergrund, vor allem durch stumpfes Auswendiglernen. »Eingebläut« wurde aber auch Gehorsam vor der Obrigkeit und »Schulzucht«, Haltung und Beachtung von Kommandos.
Der Arbeiterschriftsteller Hans Marchwitza hat seine Schulzeit um 1902 bei »Hauptlehrer und Ulanenunteroffizier Schmitt« geschildert, der die Schüler zu »guten Soldaten, die später das Vaterland zu verteidigen wissen« erzog: »Wir gingen das vierte Jahr in die Schule und lernten schon Geschichte. Wir wussten, Schmitt prügelte mit einer Klopfpeitsche. Auch wir sechzig abgerissenen und barfüßigen Scharleyer (in Oberschlesien) sollten einmal ganze Menschen werden. Wir kannten alle Ruhmestage der deutschen siegreichen Armeen wie an der Schnur auswendig. Auch mir schienen alle Feinde Deutschlands mit der Zeit als grausame Wilde und Leichenfresser.«⁹ »Es war bei uns fest beschlossen, uns freiwillig zu melden, wenn wir größer wären«, fasst Marchwitza zusammen.
»Der dressierende Schulmeister und der drillende Unteroffizier sind die beiden Hauptstützen des heutigen Staats«, beklagte Wilhelm Liebknecht 1872 in seiner berühmt gewordenen Rede »Wissen ist Macht«. Dreißig Jahre später erwies sich Dressur als zunehmend ungenügend. Die Hebung der Volksbildung sei Voraussetzung für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und die »Machtstellung unter den Völkern«, so 1909 die Begründung für ein neues Schulgesetz in Baden. Den meist aus kleinbäuerlichen Verhältnissen stammenden Volksschullehrern ermöglichte man einen Ausweg aus der Subalternität durch Beseitigung der geistlichen Schulaufsicht. Der Zugang zur Institution der »Einjährig-Freiwilligen« (EF) versprach die prestigeträchtige Möglichkeit des Aufstiegs in Offiziersränge. Die durch Aufstiegschancen geschaffenen Bindungen an den nationalen Staat wirkten auch in der Novemberrevolution weiter. Anders als Lehrkräfte der Gymnasien stellten sich diejenigen der Volksschulen auf den Boden des »Volksstaats«, weitergehenden Bestrebungen traten sie im Januar 1919 aber öffentlich entgegen. Die »alten Gewalten«, die »in den Abgrund geführt hatten« wurden allerdings nicht entmachtet und ihre »Wiederkehr« nicht wie erhofft verhindert.
Nation im Siegesrausch
Die wie bei Napoleon III. »plebiszitär legitimierte charismatische« Quasidiktatur Bismarcks (Hans-Ulrich Wehler) wollte den Krieg, um »Schwierigkeit im Innern durch eine kühne Politik nach außen zu überwinden«. Mit der »Emser Depesche« stellte der deutsche Kanzler dem französischen Kaiser eine plumpe Falle, wie Franz Mehring schrieb. Als geschickter Taktiker habe es Bismarck verstanden, »der bonapartistischen Kriegserklärung das Gepräge eines ruchlosen Überfalls aufzudrücken«.¹⁰ Dadurch kippte die Stimmung auch im süddeutschen Bürgertum in eine »patriotische Ekstase«, die in ihren Gegnern »wilde Tiere« sah und einen »Krieg der germanischen gegen die romanische Race« zu führen glaubte. Über solchen »nationalen Schwindel« machte sich der preußische Kanzler lustig, benutzte ihn aber geschickt zur Integration der süddeutschen Staaten in seinen »herrlichen Militärstaat«, wie der spätere württembergische König Wilhelm das Deutsche Reich nicht ohne Ironie nannte.
Liberale und linke Opposition gerieten in ein Dilemma. Seit 1848 war ihnen die deutsche Einigung eng verbunden mit dem Kampf um Demokratie. Während die Hoffnungen auf eine revolutionäre Lösung schwanden, schritt die ökonomische Einigung durch den von Preußen unterstützten Zollverein (seit 1834) voran, der Hindernisse für Handel und Industrie beseitigte. Zunächst ökonomisch, zunehmend auch politisch akzeptierte nun das Bürgertum die preußisch dominierte Einigung. Deren »Architekt« Bismarck wurde, so Friedrich Engels, »zum Abgott der Bourgeois«, begrub ihre liberalen Ansprüche, »aber erfüllte ihre nationalen Forderungen«.¹¹
Bismarck vollzog diese Einigung im Bürgerkrieg von 1866 als »Revolution von oben«, wie Engels 1887 analysierte. Er verjagte den in Frankfurt am Main tagenden Bundestag des Deutschen Bundes, vereinheitliche nach der Reichsgründung 1871 Gesetzgebung, Bürgerrecht, Eisenbahnen, Maße, Post, Geld und förderte so die stürmische Industrialisierung. Die Nationalliberalen spalteten sich als Vertretung der industriellen Bourgeoisie von der kleinbürgerlich dominierten Volkspartei ab und unterstützten Bismarck.
In Süddeutschland wehrte sich die Demokratische Volkspartei Anfang 1870 noch mit großen Kundgebungen gegen die Einführung der preußischen Militärverfassung und die unpopuläre dreijährige Wehrpflicht. Nach Kriegsbeginn allerdings wurden Kritiker des Militarismus – wie der prominente Abgeordnete Karl Mayer, der die »patriotischen Ekstase beklagte« – als »Napoleon-Söldner« beschimpft und bedroht. Die Volkspartei stimmte schließlich im Landtag für die Kriegskredite. Von Spaltungen blieb auch die entstehende Arbeiterbewegung nicht verschont, die zunächst weitgehend auf den Kurs der Vaterlandsverteidigung gegen den populistischen Diktator Charles-Louis Napoléon Bonaparte, Napoleon III., einschwenkte. Erst mit dessen Sturz und den offenbar gewordenen deutschen Eroberungszielen gelang es August Bebel, sie wieder auf einen gemeinsamen Kurs für einen sofortigen Friedensschluss ohne Annexion des Elsass zu bringen.
Der Militarismus war nicht nur Vorbereitung auf den Krieg. Er spielte vor dem Hintergrund der Auflösung des Feudalismus und der Industrialisierung eine zentrale Rolle bei der Verankerung eines neuen Hegemonieprojekts. Über die schmale Elite des preußischen Militäradels als politisch herrschender Klasse hinaus gelang es, weite Teile der Mittelschicht zu integrieren und die ländlichen Unterschichten gegen die Sozialdemokratie abzuschirmen. Der »Radikalnationalismus« (Volker Ullrich) bot dieser Integration eine scheinbar klassenübergreifende Legitimation durch sein Versprechen des persönlichen und staatlichen Aufstiegs.
Völkisch grundierter Nationalismus
Am Schluss seines Romans lässt Heinrich Mann seinen Helden eine große Rede zur Enthüllung des vom Kriegerverein initiierten Denkmals halten. Diederich spricht von Weltpolitik, von der Ausrottung der »vaterlandslosen Feinde bis auf den letzten Stumpf«, vom »Herrenvolk«, dem weltweit tüchtigsten Volk, der Elite unter den Nationen, der »Höhe germanischer Herrenkultur«, geeint als »eine einzige nationale Partei« von einer starken und vergötterten Persönlichkeit. Unüberhörbar wird hier vor einem Programm des völkisch fundierten Nationalismus gewarnt, wie es bald Hitler aufgriff. Hindenburg, der oberste Repräsentant des deutschen Militarismus, ernannte 1933 Hitler zu seinem Testamentsvollstrecker.¹² Im Faschismus, fasst der Militärhistoriker Wolfram Wette zusammen, erreichte die Militarisierung Deutschlands »ihren absoluten Höhepunkt«. Er müsse in der Kontinuität des Militarismus der Kaiserzeit, als systematische Bündelung und Radikalisierung älterer Traditionen, begriffen werden.¹³
1947 benannte der nationalliberale Historiker Friedrich Meinecke selbstkritisch den Militarismus als diejenige geschichtliche Macht, »die den Aufbau des ›Dritten Reichs‹ wohl am stärksten gefördert hat«. Von solchen Kontinuitäten wollte man allerdings im Adenauer-Deutschland angesichts von Kaltem Krieg und Wiederbewaffnung nichts mehr wissen.¹⁴
Anmerkungen
1 Manfred Flügge: Heinrich Mann. Eine Biographie, Reinbek 2006, S. 154
2 Klaus Saul: Der »Deutsche Kriegerbund«. Zur innenpolitischen Funktion eines »nationalen« Verbandes im kaiserlichen Deutschland. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen 6 (1969), S. 95–159, siehe S. 44. Hier auch die Zitate zu den Kriegervereinen.
3 Hans-Ulrich Wehler: Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, Göttingen 1988, S. 164
4 Wolfgang Mährle, Landesarchiv Baden-Württemberg (Hg.): Nation im Siegesrausch. Württemberg und die Gründung des Deutschen Reichs 1870/71. Begleitbuch zur Ausstellung, Stuttgart 2020, S. 170
5 Martin Greschat: Krieg und Kriegsbereitschaft im deutschen Protestantismus. In: Jost Dülffer, Karl Holl (Hg.): Bereit zum Krieg. Kriegsmentalität im wilhelminischen Deutschland 1890–1914, Göttingen 1986, S. 33–55, siehe S. 35. Hier auch die Zitate zum Protestantismus.
6 Hans-Christian Kirsch: Bildung im Wandel. Die Schule gestern, heute und morgen, Frankfurt am Main 1980, S. 212
7 Karl Liebknecht: Der Hochverratsprozess gegen Liebknecht vor dem Reichsgericht. Verhandlungsbericht nebst einem Nachwort, Berlin 1907, S. 82
8 Horst-Joachim Frank: Geschichte des Deutschunterrichts, München 1973, S. 547
9 Hans Marchwitza: Meine Jugend, Berlin 1947, S. 48
10 Franz Mehring: Deutsche Geschichte vom Ausgang des Mittelalters. Zweiter Teil, Berlin 1911, S. 85
11 Friedrich Engels: Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, Manuskriptfassung 1887–1888. Siehe MEW, Bd. 21, S. 434
12 Erhard Korn: Wegbereiter der Diktatur, junge Welt, 2. August 2024, S. 12–13
13 Wolfram Wette: Schule der Gewalt. Militarismus in Deutschland 1871–1945, Berlin 2005, S. 30
14 Wolfram Wette: Militarismus in Deutschland. Geschichte einer kriegerischen Kultur, Frankfurt am Main 2011, S. 29
Erhard Korn ist stellvertretender Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung Baden-Württemberg. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 2. August 2024 über den 90 Jahre zuvor verstorbenen Paul Ludwig Hans Anton von Beneckendorff und von Hindenburg.
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Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (1. Oktober 2024 um 11:37 Uhr)Der Schoß ist nicht nur fruchtbar noch, wie Bertolt Brecht in seinem 1958 in Stuttgart post mortem uraufgeführten epischen Theaterstück »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui« konstatiert; inzwischen ist er leider auch schon wieder hochschwanger. Und wie schon 1914 ist auch dieses Mal wieder die SPD einer der bellizistischen »Samenspender«.
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