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Aus: Ausgabe vom 26.09.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Großbritannien

Katerstimmung bei Labour

Großbritannien: Wahlsieg-Euphorie bei Parteitag abhanden gekommen. Premier Starmer verspricht viel, bleibt vage und erntet Kritik
Von Dieter Reinisch
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Labour steht ihm bis zum Hals: Premier und Parteichef Starmer (Liverpool, 24.9.2024)

Keir Starmer ist der erste Labour-Premierminister seit Gordon Brown und der erste Labour-Vorsitzende seit Tony Blair, der eine britische Parlamentswahl gewonnen hat. Zudem der erste seit 15 Jahren, der als Regierungschef auf einer Parteikonferenz sprach: Von Sonntag bis Mittwoch tagten die Delegierten der Sozialdemokraten in Liverpool. Eigentlich also ein Grund zum Feiern – sollte man denken. Doch Freude kam an den vier Tagen in den Konferenzhallen nicht auf. Eine Korrespondentin der öffentlich-rechtlichen BBC drückte es so aus: »Ich war letzte Woche beim Parteitag der Reform UK, und da gab es mehr Euphorie als hier bei Labour.«

Die nüchterne Stimmung lag nicht am ständigen Regen in Liverpool. Delegierte und Kommentatoren werfen dem neuen Premier Starmer fehlende politische Klarheit vor. Der Labour-Chef versuchte daher, den Parteitag zu nutzen, seiner Regierung neue Energie einzuflößen – weniger als drei Monate nach den Parlamentswahlen. Gelungen scheint ihm das nicht zu sein.

Genau das aber hätte seine Labour-Regierung bitter notwendig, wie die neuesten Umfragedaten zeigen. Zum Zeitpunkt der Wahl lag die Zustimmungsrate für Starmer in der Bevölkerung bei minus drei. Aktuell ist sie dramatisch auf minus 30 gefallen, laut einer Umfrage der Zeitung The Times, die am Dienstag veröffentlicht wurde. Demnach meinen 53 Prozent der Befragten, dass der Premier »einen schlechten Job« mache.

Starmer hatte sich Anfang Juli für seinen »historischen Wahlsieg« feiern lassen und dabei verdeckt, dass seine Regierung weniger Unterstützung an der Wahlurne erhalten hatte als ihre konservative Vorgängerin – Labour war auf 34 Prozent gekommen. Aber auch weniger als das, was die Partei unter Starmers linkem Vorgänger Jeremy Corbyn einfahren konnte, in Prozenten wie auch in absoluten Zahlen. Auf diesen Punkt wiesen auch mehrere der Kritiker Starmers hin. Der Generalsekretär der Feuerwehrgewerkschaft FBU, Matt Wrack, sagte, der überwältigende Wahlsieg von Labour in diesem Sommer sei eher ein »Anti Tory«-Voting gewesen als eine aktive Unterstützung für die Sozialdemokraten und deren aktuelle Politik: »Wenn die Labour-Bewegung den Menschen keine Hoffnung gibt, werden sie sich in andere Richtungen bewegen«, befürchtet Wrack.

Unter dem Motto »Ein neues Großbritannien« sprach Starmer am Dienstag vor den Delegierten. Mehrmals wiederholte er diese Losung: »Wir müssen ein neues Großbritannien aufbauen.« In seiner Rede mühte sich Starmer intensiv, seiner Regierung eine gewisse Richtung und Inhalt zu geben. Er legte dar, wie Labour das Land zum Besseren umbauen werde, und stellte die schwierigen Entscheidungen, die die Regierung treffen müsse, in den Kontext seiner Erzählung, es handle sich um ein langfristiges Projekt. »Ich habe nie etwas anderes gesagt, nicht einmal im Wahlkampf. Delegierte, seid euch sicher und denkt nichts Falsches von uns: Die Arbeit des Wandels hat begonnen.« So klingt Starmer bereits am Beginn einer Legislaturperiode teils verzweifelt, zum anderen appellierte an die eigenen Parteimitglieder, sich mit ihrer Kritik zurückzuhalten.

Um den versprochenen »Wandel« zu untermauern, erklärte der Labour-Vorsitzende: »Eine Regierung muss in allem, was sie tut, den arbeitenden Menschen dieses Landes zeigen, dass Politik eine Kraft des Guten sein kann, dass sie auf der Seite der Wahrheit und Gerechtigkeit stehen kann und dass sie durch die stetige, aber kompromisslose Arbeit ein besseres Leben für ihre Familie sichern kann.« Dann listete er eine Reihe von begonnenen Reformprojekten auf: Einigung mit den Ärzten in den Lohnstreitigkeiten, neue Solar- und Offshore-Windprojekte, die Gründung des staatlichen Energieunternehmens Great British Energy, Verbot von Zweitjobs für Abgeordnete, den Aufbau eines Grenzkommandos, einen neuen Wohnbaufonds und eine Mieterreform, die Kündigung aufgrund von Verschuldung verhindern soll. Ebenso nahm die Wiederverstaatlichung der britischen Bahn eine zentrale Rolle ein.

Euphorie konnte diese Liste dennoch nicht auslösen, denn Starmer verkündete auch, ohne konkreter zu werden, »harte wirtschaftliche Einschnitte« in den kommenden Jahren. Einer der ersten ist die Kürzung der Förderungen von Heizkosten im Winter, die vor allem Rentner treffen wird. In der Yougov-Umfrage, die in der Times veröffentlicht wurde, war die Kürzung dieser Förderung ein Hauptgrund für die drastische Abnahme von Starmers Zustimmungswert. Das Thema überschattete den gesamten Parteitag.

Vor allem am Mittwoch, dem letzten Kongresstag, wurde über die sozialen Kürzungen diskutiert. Gewerkschaften forderten mit scharfen Worten deren Rücknahme. Auch der Zustand des Gesundheitswesens NHS führte zu unüberhörbarer Kritik an der Regierung. Gesundheitsminister Wes Streeting sprach am Vormittag und gestand abermals ein, dass das NHS ramponiert sei. Doch weder er noch Premierminister Starmer konnten Pläne benennen, wie eine erfolgreiche Reform des Gesundheitswesens anzugehen sei. Den Delegierten blieb das nicht verborgen, wiederholt wurde entsprechende Kritik geäußert. So war es wohl kein Parteitag, wie Starmer ihn sich nach 14 Jahren in der Opposition gewünscht hatte. Statt Feierlaune gab es jede Menge Gegenwind.

Protest gegen Krieg

Die Kriege in der Ukraine und im Mittleren Osten waren auch in und vor der Kongresshalle ein Thema. Am Sonntag wurden die Delegierten von einer Großdemonstration gegen die Involvierung Großbritanniens begrüßt. In Liverpool demonstrierten über 15.000 Menschen gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und Israel. Zur Demonstration hatte die »Palestine Solidarity Campaign« aufgerufen. Sie fordert, dass die Labour-Regierung klarer für Friedenslösungen eintritt und nicht weiter die aggressive Militärpolitik der NATO und Israels unterstützt.

Unterstützung erhielten die Protestierenden vom ehemaligen Labour-Parteichef und unabhängigen Parlaments­abgeordneten, Jeremy Corbyn. In sozialen Medien fragte er, wer auf der »richtigen Seite der Geschichte« stehe, die Regierung oder die Protestierende. Er zog auch einen Vergleich mit den Protesten gegen den Labour-Parteitag unter dem damaligen Regierungschef Tony Blair nach der Invasion im Irak: »Die mutigen Demonstranten auf der Labour-Konferenz, die ein Ende aller Waffenverkäufe an Israel fordern, erinnern mich an das Parteimitglied, das 2005 aus der Konferenz gezerrt wurde, weil es gegen den Irak-Krieg protestiert hatte«, schrieb Corbyn auf der Plattform Threads.

Auch auf dem Konferenzgelände spielte der Krieg im Nahen Osten eine Rolle. Wie die Plattform Middle East Eye berichtete, wurde Veranstaltern von offiziellen Nebenevents des Parteitags verboten, in ihren Publikationen, die bei diesen Veranstaltungen verbreitet werden, die Wörter »Genozid« und »Apartheid« im Zusammenhang mit Israel zu verwenden. Eine Veranstaltung, an der die Labour-Abgeordnete Bell Ribeiro-Addy teilnahm, wurde als »Gerechtigkeit für Palästina« angekündigt, die Ausdrücke »Beendigung des Völkermords« und »Beendigung der Apartheid« wurden von den Programmkoordinatoren gestrichen. (dr)

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