Vollkommen uneins
Von Philip TassevDer Beauftragte der Bundesregierung für Ostdeutschland, der Thüringer Sozialdemokrat Carsten Schneider, hat am Mittwoch seinen diesjährigen Bericht mit dem Titel »Ost und West. Frei, vereint und unvollkommen« vorgestellt. Der Bericht ist vor allem der Versuch, den Anschluss der DDR vor 34 Jahren als eine Erfolgsstory von Freiheit, Demokratie und Kapitalismus zu verkaufen. So behauptet etwa im Vorwort Michael Hüther, Aufsichtsratsvorsitzender der TÜV Rheinland AG und im Vorstand der »Atlantik-Brücke«, die Ansiedlung von multinationalen Großkonzernen wie Tesla bescherten Ostdeutschland einen »wirtschaftlichen Aufschwung«.
Auch ein Lech Wałęsa wurde reaktiviert, um von der BRD als Retter Europas zu sprechen und nach »Führung« zu verlangen, »gerne mit zwei, drei anderen Ländern gemeinsam, aber Deutschland muss vorangehen«, denn das sei »sein Schicksal im 21. Jahrhundert«. Der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis freut sich in seinem Beitrag über die »historische Entscheidung«, Bundeswehrsoldaten dauerhaft in seinem Land zu stationieren.
Der Erzählung vom wiedervereinten und -erstarkten Deutschland stehen aber die Fakten entgegen. So belegen die Wissenschaftlerinnen Charlotte Bartels und Theresa Neef die »anhaltende wirtschaftliche Teilung« und stellen fest, dass auch nach mehr als 30 Jahren die »wirtschaftlichen Ressourcen« der Ostdeutschen geringer als die der Westdeutschen sind. »Ostdeutsche Löhne liegen immer noch knapp 30 Prozent unter den westdeutschen Löhnen. Das durchschnittliche Vermögen der ostdeutschen Haushalte beträgt weniger als 50 Prozent des westdeutschen Durchschnitts.«
Ferner wurden für den Bericht 4.000 Menschen aus »zufällig ausgewählten strukturstarken und strukturschwachen Kreisen in Ost- und Westdeutschland« die Frage gestellt: »In welcher Gesellschaft wollen wir leben?« Die wenig überraschende Antwort: »Eine große Mehrheit der Befragten steht hinter unseren freiheitlich-demokratischen Grundrechten und wünscht sich, dass diese in unserer Gesellschaft auch gewährleistet sind.« Da findet Schneider die Wahlerfolge der AfD im Osten selbstverständlich »erschreckend, ernüchternd und auch alarmierend«, wie er am Mittwoch der dpa sagte. Er »halte nichts davon, den Ostdeutschen einzureden, sie seien Opfer«. Sie seien »diejenigen, die sich selbst ermächtigt haben in den letzten 35 Jahren, aus dem, was wirtschaftlich und von der Substanz der DDR noch übrig war, was gebaut haben«.
Eva von Angern, Vorsitzende der Linke-Fraktion im Landtag von Sachsen-Anhalt, bezeichnete Schneiders Bericht als »Papiertiger«, voll mit »Durchhaltephrasen« und nur wenigen konkreten Lösungsansätzen, um im Osten für bessere Lebensverhältnisse zu sorgen. Es fehlten »gleichwertige Löhne, gleiche Renten, gleiche Vermögenswerte und gleiche Wirtschaftskraft«.
Die Vorsitzende des BSW, Sahra Wagenknecht, stellte das Amt des Ostbeauftragten insgesamt in Frage. Schneider versuche erfolglos, »den Ostdeutschen ihre berechtigte Unzufriedenheit und Wut auszureden«, so die in Jena geborene BSW-Chefin. »Beauftragter und Bericht dienen der politischen Schönfärberei, die den Frustpegel eher nur noch weiter anhebt.« Der Osten brauche keine Sonderbetreuung, sondern eine andere Politik.
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