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Aus: Ausgabe vom 26.09.2024, Seite 10 / Feuilleton
Theater

Das Aas riecht

Martin Nimz inszeniert in Schwerin Brechts »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui«
Von Arnold Schölzel
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Das stärkste Argument bleibt das Abknallen: Arturo Ui (Astrid Meyerfeldt) und seine Häscher

Das Ende des Stücks – »der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch« – macht in Schwerin den Anfang. Regisseur Martin Nimz lässt oben auf der bühnenbreiten, die Spielfläche bildenden Treppe (Bühne Sonia Hilpert) einen schwarzen »Engel der Pest« (Martha-Luise Urbanek) unheilvollen Gesang anstimmen. Unter dessen langem Gewand erscheint nach einiger Zeit eine scheinbar kleine, in Fötusstellung zusammengekauerte, weiß eingekleidete Gestalt, die sich die Treppenstufen hinunterrollen oder hinunterfallen lässt und schließlich vor den Zuschauern zu Erwachsenengröße entfaltet: Arturo Ui (Astrid Meyerfeldt).

Ein Schlangenei, dessen Inhalt zur Reife kommt, eine Drachensaat, die aufgeht, das Monster, das seine Erzeuger vernichtet. Die Literaturgeschichte kennt viele Bilder für die Selbstvernichtung einer Gesellschaft, nicht für die Selbstvernichtung der Menschheit. Die stand 1941, als die erste Fassung des Stücks beendet wurde, noch nicht so auf der Tagesordnung wie vier Jahre später. Brecht hat nach dem Sieg über den Faschismus und dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki versucht, mit Stücken und Aufrufen gegen diese Gefahren zu kämpfen.

In der Schweriner M*Halle, wo früher Zeitungen gedruckt wurden, kommen die Zuschauer auf dem Weg zu ihren Plätzen an zahlreichen Faksimiles von Brechts »Brief an die deutschen Künstler und Schriftsteller« vom 26. September 1951 vorbei, in dem der Dichter angesichts der geplanten Remilitarisierung Westdeutschlands »völlige Freiheit« für Kunst und Literatur forderte – jeweils mit einer Einschränkung: »Keine Freiheit für Schriften und Kunstwerke, welche den Krieg verherrlichen oder als unvermeidbar hinstellen, und für solche, welche den Völkerhass fördern.« In Springers Welt antwortete damals Stefan Andres, das seien »gut stilisierte, aber doch empörend überflüssige Ermahnungen«.

In Schwerin wird das, was heute wieder geleugnet wird – Kriegsvorbereitung ist Rechtsruck –, offenbar ernst genommen. Als Komödie, Brecht hat das Stück so klassifiziert, inszeniert Nimz es jedenfalls nicht. So mythisch-beklemmend der Beginn des Abends, so rational und uhrwerkhaft der Verlauf: Nimz analysiert den »Aufstieg« als Produkt der Gesellschaft und zugleich als negative Bildungsgeschichte. Ui wird gemacht, aus wirtschaftlicher Notwendigkeit, aber auch als Individuum, das »richtig« zu stehen, sitzen und sprechen, vor allem aber mit Terror die Eigentumsverhältnisse zu erhalten hat. Ui soll die Not des Kapitals wenden. Das verleiht ihm von Szene zu Szene stärkeres Selbstbewusstsein. Aus einem vermeintlich schüchternen Sabbler, dessen Trupp anfangs nur »das Aas riecht«, nämlich die Krise des Kapitals, wird ein große Pläne schmiedender »Führer« – Astrid Meyerfeldt gestaltet die Stufen des Werdegangs souverän.

Der Kern, auf den Brecht den »Aufstieg« des Faschismus und von Faschisten zurückführt, wird als Text noch vor dem Auftritt des Pestengels projiziert: »Es kann in einem Aufruf gegen den Faschismus keine Aufrichtigkeit liegen, wenn die gesellschaftlichen Zustände, die ihn mit Naturnotwendigkeit erzeugen, in ihm nicht angetastet werden.« Kein Kapitalismus ohne Faschismus, kein Faschismus, der nicht »allerdreckigste Erscheinungsform« (Brecht) des Kapitalismus wäre. Das ist eine Analyse, die dem offiziellen ­Correctiv-Bla-Bla von Antifaschismus, dem sich die Berliner Waffenlieferer gern anschließen, haushoch überlegen ist. Kapitalismuskritik wie in Schwerin gilt allerdings der deutschen Gesinnungspolizei innerhalb und außerhalb von Behörden als Feindschaft gegen die Verfassung.

Das ist so lächerlich wie die handelnden Figuren im »Arturo Ui«, deren Verbrechen wiederum in keiner Hinsicht komisch sind. Fast alle, die auftreten, tragen schwarz, ihre Namen sind auf der Kleidung gedruckt, Ui bleibt bei weiß. Es handelt von Verhältnissen, weniger von Charakteren. Aktuelles kommt am Rand auch vor – der Gangster Roma ereifert sich über »Lügenpresse«, Ui schreit, er schaffe »Schutz«, »Sicherheit« und »Frieden«. Das stärkste Argument bleibt das Abknallen – gegenseitig und aller, die stören. Eine große, konzentrierte Ensembleleistung. Viel Beifall des Premierenpublikums und nach dem Verbeugen erst der Lehrepilog: »Sowas hätt’ einmal fast die Welt regiert.« In Schwerin tritt diese Figur zurück hinter die Einsicht: Der Kapitalismus herrscht noch immer. Da triumphiert niemand zu früh, im Gegenteil.

Nächste Vorstellungen: 6., 20. und 27. Oktober

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