Tod des Sonnenmädchens
Von André DahlmeyerEs ist der erste Vollmond des Monats Phalgun (Februar/März), bei dem in Nordindien (und Nepal) das traditionelle Fest Holi begangen wird. Die Menschen feiern den Sieg des Frühlings über den Winter respektive den Triumph des Guten über das Böse, bewerfen sich mit gefärbtem Pulver und sprechen dabei ausgiebig dem Hanfprodukt Bhang zu. Das Fest, das mindestens zwei, in besonders feierwütigen Gegenden auch bis zu zehn Tage dauert, gibt es schon seit etwa 300 Jahren v. u. Z. Ursprünglich war es wohl auch ein Ernte- und Fruchtbarkeitsfest, heute soll es die Liebe Krishnas zu den Menschen würdigen.
Bei einem im umtriebigen Heidelberger Draupadi-Verlag erschienenen Kriminalroman der indischen Autorin Anjali Deshpande ist dieser Gott anscheinend gerade unpässlich, doch werden die Feierlichkeiten – und auch nur im nachhinein – scheinbar gestört, als auf einem Gutshof reicher Unternehmer die Leiche von Suryabala (»Sonnenmädchen«) entdeckt wird. Sie war eine Frau aus unterer Kaste, die deshalb von allen als Prostituierte bezeichnet wird, selbst ihre eigene Mutter lässt kein gutes Haar an ihr. Eher halbherzig werden Ermittlungen aufgenommen, gesehen haben will niemand etwas, die Polizei gilt als ultrakorrupt, Dorf und Stadt können ohnehin nicht miteinander.
Officer Adhirath gehört der Kaste der Jatavs an, die nach der indischen Verfassung zu den »Scheduled Castes« gehören, den unteren. Er ist zwar vom Dienst suspendiert, weil er einem Untergebenen, der eigenmächtig einen Massenmörder liquidierte, ein falsches Alibi gegeben hat, beginnt aber dennoch herumzuschnüffeln. Zuhause brennt derweil die Luft. Die Eltern nörgeln auf hohem Niveau, während Adhiraths Frau Puschpa, die der Kaste der Dalit (Unberührbaren) entstammt, selbst Polizistin ist und bei der Women Helpline arbeitet, der landesweiten Anlaufstelle für Frauen, die Opfer von Gewalt wurden. Sie schmeißt den Großfamilienhaushalt und verdient den Zaster – was unseren Adhirath in seiner vermeintlichen Männlichkeit kränkt. Anstatt einmal tief durchzuatmen, fährt er vor sich hin grübelnd mit dem Mofa durch die Gegend, während seine Frau schuftet: »Frischer Rettich, noch mit dem Duft der Erde daran, er würde die Erde abschaben, vielleicht würde ihm auch jemand Wasser aus einem Tonkrug geben, mit dem er sie waschen konnte.« Die Handlung spielt bei Chhatarpur, etwa 600 Kilometer südöstlich von Delhi.
Das Opfer bleibt im Krimi konturlos, ein Objekt, Kollateralschaden, Menschenmüll. »Reicht es nicht, dass die Schlampen aus einem anderen Dorf unbedingt hier sterben müssen?« krakeelt ein Ortsvorsteher. Das Geschehen wird so grausam wie alltäglich dargestellt. Der simple Krimititel »Mord« wirkt zunächst wenig aussagekräftig, ist es aber doch: Es ist ja nur ein Mord. Ein Stück Menschenfleisch, dazu auch noch schwanger, das von tatsächlich unantastbaren Reichen und korrupten Kommunalpolitikern geschändet wurde, als wäre es das Normalste der Welt. Anjali Deshpande nutzt diese vermeintliche Fiktion, um von der männerbündischen indischen Gesellschaft zu berichten. Nachrichten aus dem Vorhof zur Hölle. Der Mord wird schließlich offiziell und inoffiziell (der Phlegmat Adhirath war schneller) »aufgeklärt«, es riecht aber allerorten nach Straflosigkeit. Hoffnung? Bei Anjali Deshpande stirbt sie zuerst.
Die 1954 geborene Autorin ist studierte Philosophin, war in der Studentenbewegung aktiv, setzt sich für Frauenrechte ein und kämpft für Gerechtigkeit für die Überlebenden der Bhopal-Katastrophe. 1984 waren in einem Elendsviertel des indischen Bhopal, Hauptstadt des Bundesstaats Madhya Pradesh, in der Pestizidfabrik von Union Carbide tonnenweise giftige Stoffe in die Atmosphäre gelangt. Bei der Chemiekatastrophe sind durch den direkten Kontakt mit der Gaswolke in dem Niedriglohnland Zehntausende gestorben, Hunderttausende leiden bis heute an den Folgen.
Anjali Deshpande: Mord. Aus dem Hindi von Almuth Degener, Draupadi-Verlag, Heidelberg 2023, 210 Seiten, 19,80 Euro
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