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Aus: Ausgabe vom 26.09.2024, Seite 15 / Betrieb & Gewerkschaft
Lohndumping im öffentlichen Auftrag

Niedriglöhner nach Brüssel

EU-Vorschriften begünstigen miese Arbeitsbedingungen. Kürzungspläne verstärken Kostendruck bei Auftragsvergabe. Dienstleister wollen demonstrieren
Von Gerrit Hoekman
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In jeder Hinsicht riskant: Reinigung im Auftrag des Europäischen Rates (Brüssel, 23.5.2019)

Beim Wettbewerb geht es vor allem ums Geld. In keiner Branche wird das so deutlich, wie in der Reinigung. Öffentliche Auftraggeber könnten mit gutem Beispiel vorangehen. Fehlanzeige. Am kommenden Dienstag demonstrieren deshalb Reinigungskräfte, Sicherheitspersonal und Beschäftigte im Gastgewerbe aus ganz Europa in Brüssel für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Die Gewerkschaften fordern neue Regeln bei der Vergabe öffentlicher Aufträge, um die Tarifverhandlungen zu stärken und hochwertige Dienstleistungen sicherzustellen. Bislang hätten die EU-Vorschriften nur »zu einem Wettlauf nach unten bei den Arbeitsbedingungen geführt«, so die Gewerkschaften.

»Öffentliche Aufträge sollten keine Armutsjobs schaffen«, sagt Bedra Duric, die ebenfalls in Brüssel dabei sein wird. Sie ist Betriebsratsvorsitzende und in der Industriegewerkschaft Bauen, Agrar, Umwelt (IG BAU) die Bundesfachgruppenvorsitzende des Gebäudereinigungshandwerks. Um »Deutschland sauber zu halten«, hätten die Reinigungskräfte während der Pandemie ihre Gesundheit aufs Spiel gesetzt, so Duric. »Obwohl allen klargeworden ist, dass wir unverzichtbare Jobs machen, werden wir immer noch missachtet und unterbezahlt.«

Das Volumen der öffentlichen Aufträge beläuft sich nach Angaben der Gewerkschaften in der EU auf rund zwei Billionen Euro, das entspricht etwa 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und betrifft mehrere Millionen Arbeitende. Die bei der Verteilung der Aufträge geschaffenen Standards beeinflussen auch die Löhne und Arbeitsbedingungen im gesamten Privatsektor. Eine Studie von UNI-Europa, dem Gewerkschaftsverband der europäischen Dienstleistungsgewerkschaften, hat nachgewiesen, dass die Hälfte aller öffentlichen Ausschreibungen in der EU an jene Bewerber vergeben wird, die am billigsten sind. Die sozialen Kosten werden dabei außer Acht gelassen. UNI-Europa vertritt über sieben Millionen Mitglieder aus 272 Einzelgewerkschaften in 50 Ländern und ist Teil der globalen Gewerkschaftsföderation UNI Global Union.

Die Spur übelster Ausbeutung zieht sich durch die ganze EU. In den Niederlanden wurden Callcenterangestellte, die von der niederländischen Regierung für die Covid-19-Kontaktverfolgung beauftragt wurden, unterbezahlt und hatten nicht einmal ein Recht auf eine Toilettenpause. Die niederländische Gewerkschaft FNV deckte auf, dass die Beschäftigten außerdem keine Rentenbeiträge zahlten. »Dänemark vergab alle Dolmetscherdienste an einen neuen und billigeren Bieter. Das siegreiche Unternehmen verlangte von allen Mitarbeitern, ihren Status zu ändern und als Selbständige und zu niedrigeren Preisen zu arbeiten, was viele ablehnten«, heißt es in der Studie. »Dies führte zu einem Mangel an Dolmetscherdiensten für Gerichte und Gefängnisse, was einen Aufruhr bei Richtern, Anwälten und Ärzten auslöste. Am Ende musste das Unternehmen vom Vertrag zurücktreten, da es die Nachfrage nicht decken konnte.« In Finnland verlangte ein Unternehmen von Reinigungskräften, die kommunale Kindergärten sauber machen sollten, an ihrem Arbeitsplatz zu übernachten. In Spanien gingen mehrere Sicherheitsfirmen pleite, weil sie die »gnadenlosen Vertragsbedingungen nicht erfüllen konnten«. Die Angestellten wurden arbeitslos und warteten vergeblich auf die noch offenen Löhne.

»Dies sind nur einige Beispiele aus dem wirklichen Leben, die darauf hinweisen, dass es ein Problem mit den europäischen Vorschriften und Praktiken der öffentlichen Auftragsvergabe gibt«, stellt UNI-Europa fest. »Haushaltskürzungen und Sparprogramme setzen lokale Behörden unter Druck, sich für Outsourcing zu entscheiden und sich dabei fast ausschließlich auf den niedrigsten Preis zu konzentrieren.« Im Jahr 2019 wurden öffentliche Aufträge am häufigsten in Griechenland nach dem Prinzip »Je billiger, um so besser« verteilt: 90 Prozent. Nur knapp dahinter Rumänien, Slowakei, Zypern, Lettland, Bulgarien. Deutschland liegt mit 49 Prozent nur etwas unter dem EU-Durchschnitt. Am besten ist die Situation in Irland, Frankreich und Norwegen.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat als Ziel ausgegeben, dass in jedem Mitgliedstaat 80 Prozent aller Arbeitsplätze unter einen Tarifvertrag fallen müssen. »Wir begrüßen von der Leyens anhaltendes Engagement (…)«, sagte Oliver Roethig, der Vorsitzende von UNI-Europa, am 19. Juli auf der Internetseite der Gewerkschaft. »Um dieses Engagement in die Tat umzusetzen, muss die von ihr versprochene Überarbeitung der EU-Richtlinie zur öffentlichen Auftragsvergabe sicherstellen, dass sich nur Unternehmen, die Tarifverträge einhalten, an öffentlichen Ausschreibungen bewerben können.« Auch dafür machen die Lohnabhängigen nächsten Dienstag Druck.

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