»Die Chance bleibt«
Von Gerd SchumannWir trafen uns in einem Café in Alt-Moabit in Berlin. Als Erkennungszeichen hatte ich auf dem Tisch ein Buch über Gerhard Gundermann (1955–1998) plaziert, aber ich hätte die junge, selbstbewusste Frau mit ihren langen Haaren und dem schmalen Gesicht auch so nicht verfehlen können. Linda Gundermann hat viel von ihrem Vater, und die heutige Gymnasiallehrerin für Englisch und Mathematik ist auch künstlerisch stark vom Werk Gerhard Gundermanns inspiriert – wie auch von dem Wirken ihrer Mutter Conny bei der Brigade Feuerstein. Mittlerweile verfolgt sie mit den Gruppen »Linda und die lauten Bräute« und »Linda und die lange Leitung« zwei musikalische Projekte, die neben eigenen auch Gundis (wie er genannt wurde und wird) Lieder aufführen. Am 5. Oktober tritt sie bei der Festveranstaltung »75 Jahre DDR. Was bleibt?« im Berliner Kino Babylon mit der »Leitung« und auch als Diskutantin auf.
*
Die Drehbuchautorin Laila Stieler, die das Manuskript für den Gundermann-Film von Andreas Dresen verfasst hat, sagt über Sie in etwa, Sie hätten im Gespräch immer dann, wenn es um Ihren Vater ging, zurückhaltend reagiert. Sie hätten ihn »wenig erlebt«, und das sei inzwischen zudem »weit weg« …
Nun ja, ich war sechs Jahre alt, als er gestorben ist. Erste Erinnerungen setzen in der Regel mit drei, vier Jahren ein. Ich habe zwar Erinnerungen, aber es sind alles Bilder von Papa und nicht von ihm als Künstler.
Und wie war er als Papa?
Er war viel unterwegs. Wenn er da war, war er sehr liebevoll. Er hat mich von der Kita mit seinem kleinen Klappfahrrad abgeholt, hatte einen Sitz auf die Stange montiert, ist mit mir ins Kino und auf den Rummel gegangen, er hat mir abends immer Geschichten erzählt. Er hatte mich sehr lieb, und das habe ich gespürt, auch wenn ich ihn wegen seiner Schichtarbeit und der vielen Konzerte gar nicht oft gesehen habe.
Hat er abends auch für Sie gesungen?
Nein, das war immer meine Mama. Ihn selbst habe ich nie singend erlebt, außer bei einigen Konzerten wie in Weißensee auf der Freilichtbühne. Da bin ich auf die Bühne gerannt, weil er meinen Badeanzug verschenkt hatte, ohne mich zu fragen. Ich hing dann heulend an seinem Bein – er sammelte zu Hause immer alte Sachen ein, die wir nicht mehr brauchten, und verteilte sie dann im Publikum, darunter eben auch den Badeanzug, der mir schon lange nicht mehr gepasst hat. Er hat sich danach bei mir entschuldigt, dass er mich hätte fragen müssen.
Er hat den wunderschönen Song »Linda« geschrieben, eine Liebeserklärung an Sie, wie bei ihm üblich, gedichtet in seiner poetischen, bilderreichen Sprache und durchzogen von einem feinen melancholischen Optimismus. Wann haben Sie »Linda« erstmals bewusst wahrgenommen? Als das Lied entstand, waren Sie ja gerade erst geboren …
Ich weiß es nicht genau. Es ist ja kein Kinderlied, sondern eines für die Eltern, und ich konnte mit ihm nicht so viel anfangen. Ich baue eine Beziehung zu Liedern auf, indem ich sie mitsinge. Ein Lied über einen selbst singt man nicht mit. Es war einfach immer da.
Er singt, Sie könnten vielleicht die Botin sein, die ihn »zurück ins Weihnachtsland« führt. Wie verstehen Sie dieses »Weihnachtsland«?
Es ist ein bisschen so wie »Phantasia« von Gerhard Schöne, aber mit etwas mehr Magie und Zauber und Unerklärlichem. Die heile Welt der Kindheit …
Und das Publikum, zum Beispiel bei den Weihnachtskonzerten von Heiner Kondschaks Randgruppencombo im Berliner Postbahnhof, kannte den Text in- und auswendig und sang ihn mit.
Das meiste hat der ganze Saal gesungen, ich erinnere mich, mir wurden nach solchen Konzerten des öfteren kleine Lindas vorgestellt, die wie ich damals so fünf oder sechs Jahre alt sind und die das genauso komisch finden wie ich … Es ist schön, dass das Lied so viele Leute berührt, und seit ich selbst Mutter bin (ihr Sohn ist drei Jahre alt, G. S.), habe ich auch noch mal einen anderen Zugang gefunden. Aber ich glaube, mir persönlich wird es immer etwas fremd bleiben.
Mittlerweile gehört eine ganz breite Palette von Gundermanns Liedern zum deutschen Kulturgut. Das Werk Ihres Vaters, so mein Eindruck, erfreut sich noch immer wachsender Beliebtheit. Es wird zu allen möglichen Gelegenheiten aufgeführt, interpretiert, gecovert. Wie erleben Sie das?
»Erstaunen« ist das falsche Wort. Er ist gestorben, als ich klein war, und die Lieder würden mir ans Herz gehen, egal, ob sie großartig sind oder nicht, weil er sie gemacht hat. Um einen kritischen Blick darauf zu haben, bin ich viel zu nah dran. Klar, für mich selbst gewinnen sie immer mehr an Bedeutung. Je älter ich werde, je mehr ich mich mit den Dingen auseinandersetze, mit denen sich meine Eltern auseinandergesetzt haben, um so relevanter werden die Lieder für mich. Für andere ist das genauso, aber warum, kann ich nicht sagen. Sicherlich haben der Film von Andreas Dresen und der Dokumentarfilm von Grit Lemke viel dazu beigetragen …
Die Filme werden öfter mal im Fernsehen gezeigt, was für die beiden sehr authentischen Filme von Richard Engel leider nicht zutrifft. Aber mit Sicherheit haben sie Gundermann vor allem auch im Westen bekannter gemacht.
Fast alle meine Freundinnen und Freunde, mit denen ich in der Liedermacherszene unterwegs bin, sind westsozialisiert. Vielen war Papa unbekannt, bevor sie mich kennengelernt haben. Sie sind eher durch Götz Widmann oder Hannes Wader geprägt. Inzwischen sind sie alle gerührt von seinen Liedern. Die schaffen es, die Menschen auch über die Jahrzehnte hinaus abzuholen, mit den Themen und auch mit der Art, wie er gesungen hat. Was ich an Papas Liedern so beeindruckend finde, ist, dass er politische Lieder ohne erhobenen Zeigefinger gemacht hat. Er packte das in Geschichten. Es führte aus dem Privaten ins Gesellschaftskritische. Und damit erreicht er auch Leute über den Kreis derjenigen hinaus, die sonst politische Lieder hören. Er schrieb wirklich schöne, poetische Lieder.
Lieder, die im übrigen auch, so scheint es doch, aktuell geblieben sind.
Die Schauspielerin Petra Kelling sagt ja immer, dass er so einen kassandrischen Blick hat, dass die Themen heute noch aktueller sind als bei ihrer Entstehung.
»Soll sein« fällt mir ein: »Die Pilze sollen wieder in die Bomben kriechen / Und die Bomben wieder in den Flugzeugbauch / Das Loch im Himmel soll sich wieder schließen / Und die Löcher in der Erde, die auch.« Klarer geht Vision nicht.
Oder »Halte durch« vom Album »Männer, Frauen und Maschinen«. Die Umweltkatastrophe war einfach ein Thema für ihn. Das trieb ihn um. Er hat viel angeeckt und ist eigenen moralischen Grundsätzen gefolgt.
Er verstand sich als Sozialist.
Zu den Bedingungen seiner Arbeit in der DDR kann ich weniger sagen. Ich bin Nachwendekind. Aber natürlich haben sie viel mit mir zu tun. Um Papa zu zitieren: »kann sein, dass der teufel den mann ausm land reißt / nie kriegt er das land ausm mann.«
Sein Werk wurzelt in der DDR, und das, was danach kam, lässt sich nicht davon trennen. Es bleibt und entwickelt sich auf vielerlei Weise weiter?
Ich bin 1992 geboren, aber alle, die mich großgezogen haben, sind durch dieses Land geprägt und auch durch die Werte. Dass ich danach streben muss, was Besonderes und der Erste zu sein, ist mir überhaupt nicht wichtig. Mein Streben ist es, dass ich mehr Positives als Negatives hinterlasse, wenn ich dann gehe. Auch der Stellenwert von »einfacher Arbeit« war in der DDR ganz anders. Arbeit ist nicht weniger wert, weil sie schlechter bezahlt wird. Im Gegenteil. Ohne sie wäre vieles nichts. Die Prägung bleibt, und die große Chance neben dem, was wir selbst tun, sind die Kinder und Enkelkinder, was wir an sie weitergeben, und was sie machen.
»75 Jahre DDR. Was bleibt?« Festveranstaltung zum Jahrestag. U. a. mit Beiträgen von Egon Krenz und Martin Küpper und einem Konzert von Linda und die lange Leitung, der Band von Linda Gundermann.
Sonnabend, 5. Oktober 2024, 19 Uhr; Kino Babylon, Berlin, Eintritt: 15 Euro, ermäßigt 10 Euro
Tickets im junge Welt-Laden, Torstr. 6, 10119 Berlin, Öffnungszeiten: Mittwoch bis Freitag; 13 bis 18 Uhr, unter www.jungewelt-shop.de oder unter 0 30/53 63 55-37
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