»Die Armee hat versagt«
Von Gerrit HoekmanAm frühen Morgen des 7. Oktober 2023 überwanden mehr als 1.000 Kämpfer der radikal-islamischen, palästinensischen Organisationen Hamas und Islamischer Dschihad zu Land, zu Wasser und in der Luft die Grenzanlagen zwischen Israel und dem Gazastreifen. Es dauerte mehrere Tage, bis die israelische Armee die Lage wieder unter Kontrolle hatte. Auf israelischer Seite starben, soweit bekannt, 384 Soldaten oder andere Militärangehörige und 815 Zivilisten. Außerdem wurden 251 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt.
Haaretz veröffentlichte am 7. Juli 2024 eine detaillierte Recherche der Ereignisse am ersten Tag der »Al-Aksa-Flut«, wie die Hamas die Operation getauft hatte. Die Journalisten studierten Dokumente des Militärs und sammelten Aussagen von Soldaten aller militärischen Ränge. Das Ergebnis: Die Armeeführung war offenbar völlig überfordert. Es herrschte Chaos, weil die Hamas und ihre Verbündeten mehrere Dutzend Orte gleichzeitig attackierten. »Selbst in unseren Alpträumen hatten wir keine Pläne für einen solchen Angriff. Niemand hatte eine Ahnung, wie viele Menschen entführt worden waren oder wo sich die Armeekräfte befanden. Es herrschte eine verrückte Hysterie, und Entscheidungen wurden ohne jegliche verifizierte Informationen getroffen«, beschrieb eine Quelle aus dem Militär die Situation im Hauptquartier der israelischen Gaza-Division.
Ungeschützte Kibbuzim
An manchen Orten waren Bürgerinnen und Bürger viele Stunden auf sich alleine gestellt. Zum Beispiel im Kibbuz Be’eri. Die kleine Gemeinde mit ihren etwas mehr als 1.000 Einwohnern liegt unmittelbar am Grenzzaun zum Gazastreifen. Der Kibbuz war eines der ersten Ziele der palästinensischen Fedajin. Mit etwa 100 Bewaffneten fielen sie um 6.30 Uhr in Be’eri ein. »Wir haben elf Stunden in unserem Haus gesessen, keinen Mucks gemacht, nur geflüstert, damit niemand weiß, dass wir da sind«, zitierte die Tagesschau am 12. Juli die Künstlerin Ziva Jelin. »Mein Sohn war in der Armee. Er war mit seinem Handy in Kontakt mit Freunden in der Armee, hat ihnen Koordinaten von Häusern geschickt, wo sie Familien helfen sollten.« Als die Armee schließlich in Be’eri eintraf, waren 132 Einwohner tot und weitere 32 in den Gazastreifen entführt. Elf sind bis heute in Gefangenschaft.
Am 11. Juli 2024 veröffentlichte die israelische Armee die Ergebnisse einer internen Untersuchung. »Die Armee hat versagt, die Bewohner des Kibbuz nicht beschützt«, zitierte die Tagesschau Armeesprecher Daniel Hagari. Das Militär sei auf die massive Infiltration aus dem Gazastreifen nicht vorbereitet gewesen. Es hatte nicht genug Kräfte in der Gegend und lange kein klares Bild von der Lage, handelte deshalb unkoordiniert und alarmierte die Bevölkerung in Be’eri nicht richtig. Erst am späten Nachmittag gelang es, den Kibbuz zurückzuerobern. Verteidigungsminister Joaw Gallant kündigte nach Erscheinen des Berichts eine staatliche Untersuchung an, bei der auch die Frage nach der Verantwortung der Politik nicht ausgespart werden soll. Beispielsweise seine eigene Rolle und die von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, der bis heute seine Hände in Unschuld wäscht.
Den oben erwähnten Recherchen der Haaretz zufolge wurde am 7. Oktober an mindestens drei Orten die sogenannte »Hannibal-Direktive« ausgegeben. Sie wurde laut der Jerusalem Post Mitte der 1980er als Standardverfahren eingeführt und beinhaltet vereinfacht dargestellt, dass ein toter israelischer Soldat leichter zu verkraften ist als einer, der in Gefangenschaft gerät. Gefangene würden den Feinden Verhandlungsmacht geben und die Möglichkeit, die nationale Moral zu untergraben. Eine Annahme, die sich aus Sicht des Militärs im aktuellen Gazakrieg bestätigt. Für einen großen Teil der israelischen Öffentlichkeit ist die Unversehrtheit der Geiseln und ihre Rückkehr weitaus wichtiger als etwa der militärische Sieg über die Hamas. Der Inhalt der »Hannibal-Direktive« war lange Zeit ein Staatsgeheimnis, über das bis zum Jahr 2003 jede Spekulation in den Medien verboten war. 2011 erklärte der damalige Militärchef Benjamin Gantz jedoch nachdrücklich, dass die Direktive das Töten israelischer Soldaten zur Verhinderung von Entführungen nicht gestatte.
Die größte israelische Tageszeitung Jedioth Acharonot äußerte bereits im Januar 2024 den ungeheuerlichen Verdacht, dass Fahrzeuge, die am 7. Oktober in den Gazastreifen zurückfuhren, von Drohnen, Panzern und Kampfhubschraubern der israelischen Armee beschossen und zerstört worden seien. In vielen dieser Wagen hätten sich vermutlich israelische Geiseln befunden. Die Informationen, die Haaretz aus Armeekreisen erhielt, bekräftigten diesen Verdacht.
In den frühen Morgenstunden wurde eine Entführung in Erez gemeldet, einem Grenzübergang zwischen Israel und dem Gazastreifen. Das Hauptquartier habe daraufhin »Hannibal in Erez« befohlen, erfuhr Haaretz. Ohne weitere Erklärung. Was darauf hindeute, dass die Bedeutung bekannt war. Um 10.32 Uhr habe der Kommandeur der Gazadivision anscheinend allen Bataillonen in der Gegend befohlen, Mörsergranaten in Richtung Grenze abzufeuern, obwohl die Armee weder wusste, wo sich die eigenen Kräfte genau befanden, noch, ob Zivilisten im offenen Gelände umherirrten, sich in den Wäldern entlang der Grenze versteckten oder mit wie vielen Geiseln sich die Palästinenser auf dem Weg nach Gaza befanden. »Ein weiterer Befehl von 11.22 Uhr, wonach keinem Fahrzeug die Rückkehr nach Gaza gestattet werden dürfe, ging noch einen Schritt weiter«, so Haaretz.
»Es gab keinen Fall, in dem ein Fahrzeug mit entführten Personen bewusst angegriffen wurde, aber man konnte nicht wirklich wissen, ob sich solche Personen in einem Fahrzeug befanden«, äußerte eine Quelle gegenüber Haaretz. »Ich kann nicht sagen, dass es eine klare Anweisung gab, aber jeder wusste, was es bedeutete, keine Fahrzeuge nach Gaza zurückkehren zu lassen.«
Im Kibbuz Be’eri feuerte ein israelischer Panzer auf ein Haus, in dem sich Palästinenser mit 14 Einwohnern verschanzt hatten. »Nachdem Schüsse aus dem Haus zu hören waren und die Terroristen ihre Absicht erklärten, sich selbst und die Geiseln zu töten, beschlossen die Streitkräfte, das Haus zu stürmen, um die Geiseln zu retten«, zitierte Reuters aus dem Untersuchungsbericht der Armee. Am Ende des Gefechts waren alle Palästinenser und 13 der 14 Geiseln tot. Aber nicht durch die Panzergranaten, beteuert der Armeebericht. Sie seien von den Fedajin umgebracht worden. Daran besteht laut Haaretz Zweifel, denn die »Hannibal-Direktive« soll auch in Be’eri zur Anwendung gekommen sein. Die israelische Armee äußerte sich bis jetzt nicht dazu. In einem Interview mit der New York Times gab der befehlshabende Offizier in Be’eri jedoch später zu, dem Panzerkommandanten befohlen zu haben, das Haus zu beschießen – »selbst auf Kosten ziviler Opfer«.
Massaker in der Wüste
Viele Gerüchte ranken sich bis heute auch um das Supernova-Techno-Festival in der Negevwüste. 364 vor allem junge Musikfans kamen dort ums Leben, als palästinensische Kämpfer das Festivalgelände umstellten und unter den etwa 4.500 Feiernden ein schreckliches Massaker anrichteten. Tausende wurden verletzt, etwa 40 Menschen nach Gaza entführt. Es ist mittlerweile sicher, dass das Festival ursprünglich kein Ziel der Hamas war. Es sollte nämlich schon am 6. Oktober zu Ende sein, wurde aber spontan um einen Tag verlängert. Die Islamisten hatten wohl den Kibbuz Re’im, der ganz in der Nähe liegt, im Visier. Auf dem Weg dorthin bemerkten sie das Festival und änderten kurzfristig ihre Pläne.
Ziemlich schnell kam nach dem 7. Oktober das Gerücht auf, dass nicht alle Opfer auf das Konto der Hamas gehen würden. »Einer Polizeiquelle zufolge ergab eine Untersuchung des Vorfalls auch, dass ein IDF-Kampfhubschrauber (IDF: Israel Defence Forces), der vom Stützpunkt Ramat David am Tatort eintraf, auf die Terroristen schoss und offenbar auch einige der dort anwesenden Nachtschwärmer traf«, berichtete die Tageszeitung Haaretz am 18. November 2023 in ihrer hebräischen Ausgabe. Bislang fehlt für diese Behauptung allerdings ein eindeutiger Beweis. Merkwürdig aber: Israel korrigierte die Zahl der israelischen Opfer im November um 200 auf 1.200 nach unten. Angeblich sollen bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Hamas-Militante zuerst für Festivalbesucher gehalten worden sein. Sollte das stimmen, würde sich natürlich die Frage stellen, durch wen oder was die Kämpfer verbrannt wurden?
Besonders im Zusammenhang mit dem Supernova-Festival, aber auch mit anderen Angriffszielen der Fedajin steht die massenhafte Vergewaltigung von Frauen als Vorwurf im Raum. Pramila Patten, eine Juristin aus Mauritius, die seit 2017 UN-Sonderbeauftragte für sexuelle Gewalt in Konflikten ist, reiste im Januar/Februar für 14 Tage nach Israel, um den Anschuldigungen auf den Grund zu gehen. Sie sprach mit 34 Augenzeuginnen und -zeugen, sichtete 5.000 Fotos und 50 Stunden Filmmaterial. Am 4. März erstattete sie Bericht. »Es war ein Katalog der extremsten und unmenschlichsten Formen des Tötens, der Folter und anderer Schrecken«, einschließlich sexueller Gewalt, so Prattan. »Während es vernünftige Gründe zu der Annahme gibt, dass konfliktbezogene sexuelle Gewalt auf dem Nova-Musikfestivalgelände (…) und im Kibbuz Re’im stattgefunden hat, konnten gemeldete Vergewaltigungsfälle an anderen Orten nicht bestätigt werden. Gleichzeitig kam das Team zu dem Schluss, dass mindestens zwei der in den Medien ausführlich behandelten Vorwürfe sexueller Gewalt im Kibbuz Be’eri unbegründet waren.«
»Bei der Veröffentlichung ihres jüngsten Missionsberichts argumentierte Patten, dass jede schlüssige Feststellung bezüglich der sexuellen Gewalt am 7. Oktober eine offizielle UN-Untersuchung erfordern würde«, gibt die US-amerikanische Nachrichtenseite Mondoweiss am 11. März zu bedenken. »Aber genau diese bereits laufende UN-Untersuchung (…) hat die israelische Regierung wiederholt blockiert.« Der Patten-Bericht kritisiere ebenfalls »die mangelnde Kooperation des Staates Israel mit relevanten UN-Gremien mit Untersuchungsmandat«.
Bereits am 20. Januar 2024 nahm das Medienbüro der Hamas unter dem Titel »Unsere Erzählung – Operation Al-Aksa-Flut« auf 16 Seiten Stellung zu den Geschehnissen am 7. Oktober. Darin wird energisch bestritten, dass die Kämpfer ihres militärischen Arms, der Kassam-Brigaden, israelische Frauen vergewaltigt hätten. Der Angriff habe auf die Zerstörung israelischer Militärstandorte gezielt. Man habe versucht, »feindliche Soldaten festzunehmen, um die israelischen Behörden dazu zu drängen, die Tausenden von Palästinensern, die in israelischen Gefängnissen festgehalten werden«, im Rahmen eines Gefangenenaustauschs freizulassen. »Die Vermeidung von Schäden an Zivilisten, insbesondere Kindern, Frauen und älteren Menschen, ist eine religiöse und moralische Verpflichtung aller Kämpfer der Al-Kassam-Brigaden. Wir wiederholen, dass der palästinensische Widerstand während der Operation vollkommen diszipliniert war und sich den islamischen Werten verpflichtet fühlte.«
Auf die religiös und ideologisch geschulten und auf Disziplin gedrillten Kämpfer der Kassam-Brigaden könnte das möglicherweise sogar zutreffen. Aber Videoaufnahmen, die im Internet kursieren, lassen vermuten, dass längst nicht alle der rund 1.000 Angreifer zu den Kassam-Brigaden gehörten. Und auch wenn sich der Vorwurf systematischer Massenvergewaltigungen als Kriegswaffe nicht bestätigen sollte – jeder einzelne Fall ist einer zu viel.
Uninformierte Dienste
Der 7. Oktober erschütterte das Sicherheitsgefühl der Israelis bis ins Mark. Entsetzt fragten sie: Wie konnte es passieren, dass sich Israel, die stärkste Militärmacht im Mittleren Osten, auf diese nie für möglich gehaltene Art und Weise überrumpeln ließ? Wo war die israelische Armee, als mehrere Tausend palästinensische Fedajin den Grenzzaun niederrissen, mit Booten über das Mittelmeer kamen und mit Gleitfliegern auf israelischem Boden landeten? Ein Teil der Soldaten war wegen jüdischer Feiertage auf Heimaturlaub. Außerdem hatte die Armeeführung in den Wochen zuvor mehrere Einheiten aus Südisrael in die Westbank verlegt, wo die Bevölkerung gegen die Besatzungsmacht aufbegehrte wie seit den Zeiten der Intifada nicht mehr.
Wieso hatten die israelischen Geheimdienste, die als die besten der Welt gelten, von den Vorbereitungen im Gazastreifen nichts mitbekommen? Anzeichen gab es durchaus. Eine Soldatin, die in einem Beobachtungsposten in der Nähe des Grenzzauns vor einem Monitor saß, berichtete der Tageszeitung Haaretz von einer Begebenheit auf der palästinensischen Seite einen Monat zuvor. »Gegen sieben Uhr morgens kamen sie in der Gegend an (...) – Dutzende Autos und Lastwagen. Sie verteilten sich dort für eine Besprechung mit Ferngläsern und zeigten auf die israelische Seite.« Sie habe einen der Palästinenser auf der anderen Seite des Zauns mit der Kamera herangezoomt. »Er drohte mir mit dem Finger«, erinnerte sie sich noch genau an die merkwürdige, nonverbale Begegnung via Kamera.
Die junge Soldatin informierte umgehend ihre Kommandantin. Was mit der Information passiert sei, wisse sie aber nicht. Anscheinend wurde sie entweder auf die leichte Schulter genommen, oder sie versickerte irgendwo. Auch andere Kameradinnen sahen Verdächtiges und warnten die Vorgesetzten. »Aber die israelischen Verteidigungsstreitkräfte wollten es nicht sehen. Oder genauer gesagt, sie wollten nicht auf diejenigen hören, die es sahen«, stellte Haaretz fest.
Die Soldatinnen machen dafür eine Mischung aus Arroganz und Chauvinismus bei den männlichen Befehlshabern verantwortlich. Die israelischen Beobachtungsposten werden nämlich ausschließlich mit jungen Frauen besetzt. »Es besteht kein Zweifel, dass die Dinge anders ausgesehen hätten, wenn Männer vor diesen Bildschirmen gesessen hätten«, ist sich eine Beobachterin sicher. »Hätte das israelische Kommando auf die Späherinnen gehört, die den Sektor gut kannten und Alarmstufe Rot ausriefen, hätte alles anders ausgesehen«, kommentierte Haaretz das Fehlverhalten. »Und hätte es sie nicht schutzlos in ihren Außenposten zurückgelassen, wären heute noch Dutzend von Späherinnen unter uns, die getötet oder als Geiseln genommen wurden.«
Drei Wochen vor dem palästinensischen Angriff erstellte die Gazadivision einen Bericht, der sich genau mit diesem Szenario auseinandersetzte, berichteten israelische Medien im vergangenen Juni. Darin waren anscheinend auch Pläne der Hamas besprochen worden, Geiseln zu kidnappen. Im Gazastreifen würden entsprechende Vorbereitungen getroffen. Noch am 6. Oktober soll sich Generalstabschef Herzi Halewi mit führenden Mitarbeitern des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet über auffällige Aktivitäten auf der anderen Seite des Grenzzauns beraten haben. Die Runde sei vertagt worden, berichtete die Tagesschau im Juni. Schin-Bet-Chef Ronen Bar schickte ein kleines Sicherheitsteam an die Grenze. Das Team wurde am nächsten Tag von der Härte des Angriffs überrascht. Laut Israelnetz vom 17. Oktober 2023 sind mindestens zehn Mitglieder von Schin Bet am 7. Oktober ums Leben gekommen.
Offenbar unterschätzten die Verantwortlichen die Fähigkeiten der Palästinenser. »Die Hamas wurde als bloß zweitklassige terroristische oder paramilitärische Organisation angesehen (zumindest im Vergleich zur Hisbollah), die kaum in der Lage war, einen ausgeklügelten Low-Tech-Angriff gegen die weit überlegenen israelischen Verteidigungsstreitkräfte durchzuführen«, vermutete Ariel Levite am 22. Februar 2024 auf der Internetseite War on Rocks. Levite ist ein ehemaliger Leiter des Büros für internationale Sicherheit im israelischen Verteidigungsministerium.
Levite macht auch »ein gewisses Maß an kultureller Arroganz« für das Desaster mitverantwortlich. »Bemerkenswerterweise hielten die israelischen Politiker bis zum 7. Oktober an ihrer Überzeugung fest, dass die oberste Führung der Hamas nicht nur von einer Eskalation abgeschreckt, sondern auch stark von Selbsterhaltung und Gier motiviert sei. Daher gingen sie davon aus, dass Israel mit kleinen Gesten, die von Arbeitserlaubnissen für Gazabewohner in Israel bis hin zur Duldung regelmäßiger Geldspritzen aus Katar reichten, den Status quo bewahren könnte.«
Levite weist auf eine angeblich toxische Beziehung zwischen der Regierung und den Sicherheitsbehörden hin. Netanjahu war offenbar Anfang 2023 wiederholt vor den negativen Auswirkungen der Politik seiner rechtsextremen Regierung auf die israelische Sicherheit und den daraus resultierenden wachsenden Kriegsgefahren gewarnt worden. Außerdem treibe seine Regierung die Spaltung innerhalb der Gesellschaft auf die Spitze. Israel mache nach außen den Eindruck, verwundbar zu sein. Netanjahu habe die Hamas und deren Rivalität gegenüber der Palästinensischen Nationalbehörde von Mahmud Abbas gut gebrauchen können – als »Bollwerk gegen den äußeren Druck (…), über die Gründung eines palästinensischen Staates zu verhandeln«, so Levite. Diese fatale Symbiose zwischen der israelischen Rechten und den radikal-islamischen Kräften in Palästina ist nicht neu. Sie sind seit jeher voneinander abhängig, um die Friedensbereiten auf beiden Seiten in Schach zu halten.
Auswuchs der Hoffnungslosigkeit
Der Zeitpunkt des Angriffs der Hamas und ihrer Verbündeten spiegelt die Veränderungen in der Region wider. Immer mehr arabische Staaten nahmen diplomatische Beziehungen zu Israel auf. Drei Wochen vor dem 7. Oktober hatte Ministerpräsident Netanjahu erklärt, dass eine Einigung mit Saudi-Arabien kurz bevorstehe. »Wir würden Frieden mit Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten schließen, und die Palästinenser würden vergessen werden, bis sie ausgelöscht sind, wie es sich viele Israelis wünschen würden«, schrieb Gideon Levy am 9. Oktober 2023 in einem sarkastischen Kommentar für die israelische Tageszeitung Haaretz. Levy, dessen Vater 1939 aus dem besetzten Tschechien vor den deutschen Nazis nach Palästina floh, ist ein streitbarer Geist, der in Israel durchaus umstritten ist. Manche seiner Landsleute werfen ihm sogar vor, er unterstütze einen palästinensischen Radikalismus.
Für die Hamas war die drohende diplomatische Anerkennung Israels durch Saudi-Arabien wohl der Tropfen, der das Fass überlaufen ließ. Aber es hatte Jahrzehnte gedauert, bis es randvoll war. Die USA und ihre westlichen Verbündeten hätten Israel immer als einen Staat behandelt, der über dem Gesetz steht, heißt es in der Stellungnahme der Hamas vom 20. Januar. Obwohl die Vereinten Nationen in den letzten 75 Jahren unzählige Resolutionen zugunsten des palästinensischen Volkes verabschiedet hätten, weigere sich Israel, sich an irgendeine dieser Resolutionen zu halten. »Die israelischen Verstöße und ihre Brutalität wurden von vielen UN-Organisationen und internationalen Menschenrechtsgruppen, darunter Amnesty International und Human Rights Watch, dokumentiert und sogar von israelischen Menschenrechtsgruppen«, so die Hamas. Im Sicherheitsrat würden die USA durch ihr Veto aber jede Verurteilung der israelischen Politik verhindern.
Unter den Palästinensern wuchs unterdessen die Hoffnungslosigkeit. Besonders im Gazastreifen, wo 2,3 Millionen Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht leben. Die meisten haben keine Arbeit und sind auf die Unterstützung des UN-Flüchtlingshilfswerks UNRWA angewiesen. Seit 17 Jahren blockieren Israel und Ägypten den Gazastreifen. Israel bestimmt, welche Waren in die kleine Enklave importiert werden dürfen. Warum? Weil die Hamas und nicht die willfährige Fatah 2006 die letzte freie Wahl in Palästina gewonnen hatte. Die Blockade erstickt jede wirtschaftliche Entwicklung in Gaza.
»Die derzeitige israelische Regierung ist extremistischer als jede andere Regierung zuvor, was den Widerstand eskalieren ließ«, stellte der in Belgien lebende palästinensische Journalist Tamir Ajrami am 14. Oktober 2023 auf der Internetseite Middle East Monitor (MEMO) fest. Erwiesene Rechtsradikale wie Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir oder Finanzminister Bezalel Smotrich verschärften durch permanente Provokationen die ohnehin schon angespannte Lage. Sie machen keinen Hehl daraus, dass sie die Palästinenser am liebsten von der Westbank verjagen würden, um das Gebiet bis zum Jordan für Israel in Besitz zu nehmen.
Grausamer Preis
Regierungschef Benjamin Netanjahu lehnt die international geforderte Zweistaatenlösung ebenfalls rigoros ab. Statt dessen will er die völkerrechtswidrigen Siedlungen auf der Westbank ausbauen, was die Gründung eines souveränen palästinensischen Staates immer unwahrscheinlicher macht. In Ostjerusalem wurden Palästinenser aus ihren Häusern geworfen, jüdische Siedler griffen fast täglich palästinensische Bauern auf der Westbank an, fällten ihre Olivenbäume und zerstörten ihr Hab und Gut. »Wir dachten, wir würden weiterhin arrogant jeden Versuch einer diplomatischen Lösung ablehnen, nur weil wir uns mit all dem nicht befassen wollen, und alles würde für immer so weitergehen«, beschreibt Gideon Levy die Haltung seiner Landsleute.
»Was wurde nach all dem vom palästinensischen Volk erwartet? Weiter abzuwarten und sich weiterhin auf die hilflose UNO zu verlassen! Oder die Initiative zu ergreifen und das palästinensische Volk, Land, Rechte und Heiligtümer zu verteidigen; wohl wissend, dass die Verteidigung ein in internationalen Gesetzen, Normen und Konventionen verankertes Recht ist«, rechtfertigte die Hamas ihren Angriff. »Es war eine Verteidigungsaktion im Rahmen der Abschaffung der israelischen Besatzung, der Wiedererlangung der palästinensischen Rechte und des Weges zur Befreiung und Unabhängigkeit (…).«
»Ein paar hundert bewaffnete Palästinenser durchbrachen die Sperre und drangen in Israel ein, wie es sich kein Israeli hätte vorstellen können. Ein paar hundert Menschen bewiesen, dass es unmöglich ist, zwei Millionen Menschen für immer einzusperren, ohne einen grausamen Preis zu zahlen«, analysierte Gideon Levy das, was am 7. Oktober geschah. »Die Palästinenser in Gaza haben beschlossen, jeden Preis für einen Moment der Freiheit zu zahlen. Gibt es darin irgendeine Hoffnung? Nein. Wird Israel seine Lektion lernen? Nein. Am Samstag (den 7. Oktober, jW) sprachen sie bereits davon, ganze Stadtteile in Gaza auszulöschen, den Gazastreifen zu besetzen und Gaza zu bestrafen, ›wie es noch nie zuvor bestraft wurde‹. Aber Israel hat seit 1948 keinen Augenblick damit aufgehört, Gaza zu bestrafen.«
Gerrit Hoekmann schrieb an dieser Stelle zuletzt am 5. Juni 2024 über die palästinensische Linke in der Westbank.
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