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Aus: Ausgabe vom 05.10.2024, Seite 4 (Beilage) / Wochenendbeilage
Namibia

Kampf um Erinnerung

Zwischen Verdrängung und Offenlegung deutschkolonialer Verbrechen: Der Völkermord an Nama und Ovaherero in Namibia
Von Tom Beier
Nein, das sind nicht die Namen getöteter Nama- oder Ovaherero-Anführer: Geehrt werden auf Shark Island ihre deutschen Mörder (Lüderitz, 7.8.2024)
Kleine Schritte: Die Statue des Kommandeurs der ersten deutschen »Schutztruppe«, Curt von François, befindet sich mittlerweile im Museum, statt im Zentrum von Windhoek (23.11.2022)
Von kolonialer »Pracht« ist hier wenig zu sehen: Informelle Siedlung der Ovaherero in Swakopmund (27.2.2024)

Mit erlesenen Worten wirbt das Namibia Tourism Board aus Frankfurt am Main für das südwestafrikanische Land: »Der Blick schweift bis zum Horizont, das Licht taucht die Landschaft in immer neue Farben, die Seele atmet auf. Eine Reise nach Namibia ist unvergesslich« – und legt mit aktuellen Zahlen nach: »Namibia wird als Reiseziel immer beliebter. Stärkster europäischer Quellmarkt bleibt Deutschland mit einem neuen Rekordergebnis von 90.729 Touristen (plus 5,4 Prozent).«

Wohl wahr hinsichtlich Flora und Fauna, aber auch geologisch ist Namibia eine Offenbarung. Die Namib-Wüste oder der Etosha-Nationalpark sind einzigartig auf der Welt. Doch auch die Spuren des deutschen Kolonialismus. Man muss sie aber lesen können.

Wer in Windhoek ankommt und zur Stadtbesichtigung startet, kommt am aktuell höchsten Gebäude der Hauptstadt nicht vorbei: dem Unabhängigkeitsmuseum, im Volksmund »die Kaffeekanne« genannt und erbaut vom nordkoreanischen Bauunternehmen Mansudae Overseas Projects – bekannt für monumentale Bauten im Stile des sozialistischen Realismus. Das unabhängige Namibia hat das Museum aber nicht grundlos gerade dort, auf einem Hügel, gebaut und 2014 eröffnet. Es soll dort die »Alte Feste« in seinen Schatten stellen. Die war ab 1890 für die sogenannte deutsche Schutztruppe, also die deutsche Kolonialarmee, errichtet worden. In ihren Innenhof verbannt, befindet sich die Statue des 1912 – also kurz nach dem deutschen Genozid an den Nama und Ovaherero – eingeweihten »Südwester Reiter«, die hoch zu Ross einen Soldaten der deutschen Kolonialarmee zeigt. Scheinbar unbeugsam blickt er in die Ferne, das Gewehr aufrecht in die Hüfte gestemmt, bekleidet mit dem signifikanten »Schutztruppenhut«, bei dem die Krempe auf einer Seite hochgeklappt ist. Ein Kriegerdenkmal par excellence, das von vielen heute noch ungeniert als »Denkmal für die deutschen Kolonialtruppen im damaligen Südwestafrika« bezeichnet wird. Bis 2013 stand es weithin sichtbar vor der Feste und konnte dort erst nach langwierigen Auseinandersetzungen von der namibischen Regierung abgebaut werden.

»Lebendige« Geschichte

Von Windhoek aus geht es weiter Richtung Süden, über Mariental erreicht man unweigerlich Keetmanshoop und kommt dort möglicherweise im »Schützenhaus« unter, das mit »Ingos Biergarten« und einer »Knobelbar« um seine Gäste wirbt. In der Tat ist die Unterkunft »originell«, wie ein Reisender auf einem Buchungsportal schreibt, aber sein Zusatz »deutsche Kolonialgeschichte, lebendig erhalten« doch fragwürdig. Schließlich ist das »Schützenhaus«, das mit dem zweifelhaften Alleinstellungsmerkmal wirbt, der älteste deutsche Klub im südlichen Afrika zu sein, 1907 – also mitten im Kolonialkrieg – gegründet worden.

Benannt ist Keetmanshoop nach dem deutschen Bankier Johann Keetman, der als Vorsitzender der Rheinischen Missionsgesellschaft hier eine Missionsstation bauen ließ. »1894 folgte ein Militärposten«, heißt es etwas unschuldig in einem ansonsten informativ-reflexiven Namibia-Reiseführer. Die »Feste« von Keetmanshoop steht nicht mehr. In kolonialer Zeit bildete sie das Hauptquartier der Kolonialtruppe und stellte ein beliebtes Postkartenmotiv dar, um die Botschaft »Wir sind hier die Herren« zu verbreiten – wie Bernd Heyl in seinem unverzichtbaren »Postkolonialen Reisebegleiter« treffend bemerkt.

Ziemlich genau 340 Kilometer westlich der größten Stadt im Süden Namibias gelegen, erreicht man Lüderitz. Passiert werden Orte wie Seeheim und Buchholzbrunn, die Namib-Sandwüste wird durchquert, in der Ferne ist die Diamantengeisterstadt Kolmannskuppe zu sehen und schließlich kommt man im kühlen Küstennebel der Lüderitzer Bucht an. Auch dieser Ort hat eine koloniale Geschichte. Er ist nach dem Bremer Tabakhändler Adolf Lüderitz benannt, der Bismarcks Entscheidung, ein Stückchen Afrika »deutsch werden zu lassen«, durch einen betrügerischen Landkauf umsetzte. In seinem Kaufvertrag mit dem Nama-Häuptling Josef Fredericks war von (geographischen) Meilen (7,4 Kilometer) die Rede, Fredericks aber kannte nur englische (1,6 Kilometer). Illegale Landnahme. Ein weiteres kleines Lehrstück in Sachen Kolonialismus.

Um so erstaunlicher ist, dass die stolzen »Buchter« heutiger Tage – in der Mehrheit People of Color – in einer Abstimmung dafür plädierten, den Namen ihres Städtchens beizubehalten. Traditionsverbundenheit mit dem Willen zur Eigenständigkeit oder Unwissenheit? An Cornelius Fredericks, ebenfalls Nama-Häuptling, wird aber immerhin gedacht: Auf Shark Island, der von den Deutschen vormals so benannten Haifischinsel, erinnert eine schlichte Steinplatte an ihn und seine Gefolgschaft, ohne freilich Erklärendes beizusteuern – was dringend notwendig wäre.

»Vernichtung durch Arbeit«

Am 9. September 1906 wurde Fredericks im Konzentrationslager Haifischinsel in Lüderitz inhaftiert, weil er sich der deutschen Kolonialmacht widersetzt hatte. Er wurde am 16. Februar 1907 enthauptet und sein Schädel zur »Erforschung der Rassenüberlegenheit« vermutlich an die Charité in Berlin geschickt, wie Hunderte weitere, die wohl noch immer in irgendwelchen Katakomben lagern. Schätzungen gehen davon aus, dass mehr als 4.000 Gefangene auf Shark Island gestorben sind, meist Nama aus den heißen Wüstengebieten im Osten Namibias, die im eisigen Wind an Mangelernährung und Auszehrung oder infolge der schweren Arbeit im Eisenbahn- oder Hafenbau starben. »Vernichtung durch Arbeit« sollte das später im Nazifaschismus heißen. In anderen Lagern, die es etwa in Windhoek oder Keetmanshoop gab, sind auch medizinische Experimente an den Insassen durchgeführt worden.

Was die Haifischinsel aber zum vielleicht beklemmendsten Ort in Namibia macht: Statt eines würdigen Gedenkortes beherbergt sie einen Campingplatz, für den im Internet fröhlich Werbung gemacht wird: »Von der Haifischinsel hat man einen wunderschönen Blick auf den wilden und kalten Atlantik, und auch sonst ist die Umgebung mit den rauhen nackten Felsen (…) eher lebensfeindlich. Trotzdem hat Lüderitz seinen eigenen, besonderen Charme, geprägt durch die Kolonialbauten, den Hafen, den Atlantik und die reiche Vergangenheit.« (Info Namibia, Onlinereiseportal)

Das ist kein Kolonialkitsch mehr, das ist maximale Verdrängung. Einen kleinen Fortschritt gibt es immerhin in diesem Fall im Kampf um die Erinnerung: In Berlin wurde am 2. Dezember 2022 eine Straße nach Fredericks benannt, die vorher Lüderitzstraße hieß.

Swakopmund, die zweite, weitaus größere Küstenstadt Namibias liegt fast 800 Kilometer von Lüderitz entfernt auf der gleichen Höhe wie Windhoek. Um zu ihr zu gelangen, muss die Namibwüste in ihrer vollen Länge durchquert oder umfahren werden. Wie ein großer Landriegel liegt sie an der südlichen Küste Namibias. Am 23. August 1893 landeten die ersten deutschen Siedler unter den Augen von 120 »Schutztruppensoldaten« in Swakopmund. Von da an verdiente die Hamburger Woermann-Linie Millionen am regelmäßigen Warenaustausch zwischen Hamburg und Swakopmund. Nach dem Bau eines Piers zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Swakopmund zum Haupthafen des »Protektorats Südwestafrika«.

Wer durch die nach dem ersten frei gewählten Präsidenten Namibias benannte Sam Nujoma Avenue geht, wird auf Schritt und Tritt an die Kolonialzeit erinnert. Bis 2002 hieß sie Kaiser-Wilhelm-Street. Einmal wirbt die Bismarck-Apotheke mit einem Schild, auf dem der ehemalige Reichskanzler mit Pickelhaube zu sehen ist. Etwas weiter machen Adler-Apotheke und Drogerie Emil Kiewitt mit dem deutschen Reichsadler auf sich aufmerksam. Besonders rückwärtsgewandte Deutsch-Namibier haben an ihre private Hauswand eine Plakette mit der Aufschrift »Kaiser-Wilhelm-Straße 122« anbringen lassen. Woermann- und Hohenzollern-Haus liegen nicht weit von der Sam Nujoma Avenue entfernt.

Verscharrt und verdrängt

Ja, die kleine Stadt mit ihren kolonialen Bauten, Bibliotheken und einem von ausgestopften Wildtieren bis Kolonialtruppengeschirr breit aufgestellten Museum ist pittoresk. Aber sie steht auf einem einzigen großen Killing Field, wie Laidlaw Peringanda, Vorsitzender der »Namibian Genocide Association« und Gründer des »Swakopmund Genocide Museum« betont. Wir treffen Peringanda am »Nama und Ovaherero Genocide Monument«, etwas außerhalb des offiziellen Friedhofs von Swakopmund. Es erinnert an die Konzentrationslager und Massengräber in der namibischen Küstenstadt. Vor dem unscheinbaren schwarzen Stein hält Peringanda einen Vortrag, der betroffen macht. Dort, wo der Stein steht, erläutert er, wurden die Gebeine der von den deutschen Kolonialherren ermordeten Nama und Ovaherero verscharrt. Fast niemand wisse das. Und die Stadt dehne sich in diesen Bereich aus, rücke immer näher an das Totenfeld heran. Vermutlich stehe die erste, vermutlich illegal erbaute Häuserreihe bereits darauf, so Peringanda.

Auch mit seinem Museum versucht er immer wieder an die Greueltaten zu erinnern, trifft aber auch bei der Unabhängigkeitsregierung oft auf taube Ohren. Sie will lieber in die Zukunft schauen. Eine kleine Gruppe Weißer nähert sich, auf unsere Runde aufmerksam geworden. Wir vermuten zunächst nichts Gutes: nostalgische Kolonialreisende. Zum Glück entpuppt sich die Gruppe als englische Reisegruppe auf den Spuren des britischen Kolonialismus. Walfish Bay, von der Seefahrernation ob seines natürlichen Hafens bereits 1878 annektiert, liegt nicht weit von Swakopmund. Wir kommen ins Gespräch. Ein unerwarteter antikolonialer Austausch und ein kleiner Fortschritt im Kampf um die Erinnerung.

Das Waterberg-Plateau, rund 300 Kilometer nördlich von Windhoek gelegen, ist ein Tafelberg, wie er im Buche steht. Seine Umgebung überragt er um 200 Meter: eine weite Ebene, die Richtung Osten in die Kalahari-Wüste übergeht. In der Sprache der Tswana heißt sie »der große Durst«. Aufgrund seiner besonderen Flora und Fauna beherbergt der Waterberg heute einen Nationalpark. Aber wie so oft in Namibia hat die Besonderheit der Landschaft eine dunkle historische Kehrseite. Denn hier fanden 1904 die entscheidenden Kämpfe zwischen den Ovaherero und den »Schutztruppen« der deutschen Kolonialmacht statt. Hier sammelten sich die Ovaherero mit Frauen, Kindern und ihrem Viehbesitz. Vereint wollten sie die kaiserliche Militärmaschine schlagen. Vergeblich.

»Die Schlacht am Waterberg«, wie oft behauptet, hat es aber nie gegeben. Nach mehreren Konfrontationen war der Widerstand der Ovaherero geschwächt. Sie trafen die folgenschwere Entscheidung, sich Richtung Osten zurückzuziehen. Nur ein Bruchteil überlebte. Die meisten verdursteten, zumal ihnen der »Vernichtungsbefehl« des Generalleutnants von Trotha die Rückkehr verwehrte. Die Omaheke-Trockensteppe mit ihren Wasserlöchern, ein Teil der Kalahari, wurde abgesperrt. Außerdem sei jeder Herero – mit oder ohne Waffe, mit oder ohne Vieh – zu erschießen, so der Befehl.

Ein Soldatenfriedhof am Fuße des Waterbergs bringt die geteilte Erinnerung erneut zutage. Während das Gedenken an den Tod deutscher Kolonialoffiziere früh heroisierend in Stein gemeißelt wurde, sucht man vergeblich nach Gräbern hier getöteter Ovaherero. Erst nach längerem Suchen findet sich, im hinteren Teil des Gräberfeldes an die Friedhofsmauer geschraubt, eine erst 1984 angebrachte kleine Gedenktafel. Aber wer ist die »Kameradschaft deutscher Soldaten«, die die Herero im militaristischen Sinne anerkennend als »Krieger« bezeichnet? Offensichtlich ein Traditionsverein von Angehörigen ehemaliger »Schutztruppler« um den 1951 gegründeten »Verband deutscher Soldaten« (VdS). Dieser »diente der Traditions- und Kameradschaftspflege« sowie der »Amnestierung von wegen Kriegsverbrechen verurteilter Angehöriger der Wehrmacht«. Keine Überraschung ist da, dass auch der »Bundesverband ehemaliger Soldaten der Waffen-SS e. V.« dem VdS nahe stand. Erst 2016 löste sich der Verband auf, nachdem die Bundeswehr 2004 ein Kontaktverbot verhängt hatte. Vergiftete Anerkennung für die Ovaherero also, die sich seit den 1960er Jahren lieber jährlich an der in der Nähe des Soldatenfriedhofs gelegenen Wasserstelle Ohamakari treffen.

Es scheint, als werde es noch länger brauchen, bis wir »den Schmerz der Anderen begreifen«. Der Kampf um die Erinnerung wird dabei eine zentrale Rolle spielen. In Namibia ist er in vollem Gange – wenn auch oft im verborgenen. Es gilt, ihn ins Licht zu rücken. Nicht nur in Namibia, nicht nur in Afrika. Er muss auch hier geführt werden.

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