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Aus: Ausgabe vom 07.10.2024, Seite 10 / Feuilleton
Außenpolitik

Westbindungsangst

Der Historiker Heinrich August Winkler gibt den Regierungsparteien einen Rat
Von Stefan Heidenreich
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Heinrich August Winkler im Oktober 2017

Es geht um den »außenpolitischen Standort der Bundesrepublik Deutschland«, schreibt der Historiker Heinrich August Winkler Ende September im Spiegel. Da mag er recht haben. Vielleicht ahnt er, dass der Verlauf des Kriegs im Osten diese Frage bald in ein sehr grelles Licht rücken könnte.

Winkler treiben die jüngsten Wahlerfolge des BSW um. Wie so viele seiner Kollegen sucht er die Ursache des Übels bei den unbelehrbar demokratiefernen Ossis. Das ist sehr kleindeutsch gedacht. Schließlich hat das Vertrauen in die politische Weisheit des Westens auch in anderen Ländern gelitten, wie zuletzt die Wahl in Österreich gezeigt hat.

Die Westbindung ist für Winkler eine unverrückbare politische Koordinate der Bundesrepublik. Aus seiner Fixierung spricht der Geist des Kalten Krieges. Dieser Konflikt hat sein ganzes Geschichtsmodell geprägt. Sollte nun die für ihn intellektuell so fruchtbare Konfrontation zwischen Ost und West in eine zweite Runde gehen, könnte er sich einmal mehr bestätigt fühlen.

Winklers Plädoyer für die Bindung an den Westen hat eine große Leerstelle. Das ist der Westen selbst. Er beschreibt in seinem letzten großen Werk den »langen Weg nach Westen«, ohne je genauer zu befragen, was diesen Westen im 20. Jahrhundert zusammengehalten hat.

Er bleibt auf Deutschland fixiert und hört nicht auf, Lehren aus Weimar zu ziehen. Den Westen denkt er als deutschen Mythos. Sein Horizont illustriert beispielhaft jene »Provinzialisierung Europas«, die der indische Historiker Dipesh Chakrabarty sehr vorausschauend schon vor Jahrzehnten konstatiert hat. Mag sein, dass der eiserne Vorhang viele deutsche Intellektuelle gelehrt hat, so klein zu denken. Dass die Welt sich seit dem Ende des Kalten Krieges weiter gedreht hat, lässt Winkler außer Acht. Feinde bleiben Feinde, und wer an der westlichen Weisheit zweifelt, tut es nur, um Putin Geschenke zu machen.

Dementsprechend blendet er aus, was aus dem Westen, an den er die deutsche Außenpolitik so unbedingt gebunden wissen will, in jüngster Zeit geworden ist. Um den Verfall zu sehen, muss man nicht einmal einen linken oder gar marxistischen Standpunkt einnehmen. Es genügt ein Blick auf Wirtschaftszahlen. Selbst einige konservative Politikwissenschaftler und Ökonomen, soweit sie nicht mit den üblichen Scheuklappen unterwegs sind, ziehen daraus ihre Schlüsse.

Dass der Westen kaum noch 40 Prozent des nach Kaufkraft gewichteten globalen Bruttosozialproduktes erwirtschaftet, unterscheidet die Lage von heute grundsätzlich von der kolonialen Ordnung zu Beginn des Kalten Krieges. Seit die Wirtschaftskraft allein nicht mehr ausreicht, um die globale Macht zu erhalten, greifen westliche Staaten zusehends zu Mitteln ökonomischer und militärischer Gewalt. Diese fatale Entwicklung hat in den 90er Jahren unter dem Einfluss des »Project for a New American Century« Fahrt aufgenommen. Wie der Schalter vom möglichen Frieden hin zum gewaltsamen Streben nach der alleinigen Weltherrschaft umgelegt wurde, führt der Ökonom Jeffrey Sachs in jüngster Zeit wieder und wieder aus. Er saß damals am Verhandlungstisch und hat die Entwicklung aus erster Hand verfolgt.

Wie im weiteren Verlauf die Ausdehnung der NATO ganz bewusst auf eine Konfrontation hin vorangetrieben wurde, lässt sich in den zahlreichen Vorträgen und Aufsätzen des Politologen John Mearsheimer nachsehen.

Der Westen hat sich verrannt. Statt von Völkerrecht, von Frieden und Verträgen, reden seine Politiker nun von einer »rules-based order«, deren Regeln nirgends gemeinsam beschlossen und nirgends festgehalten werden. Der Großteil der Welt nimmt diese ungeschriebene und oktroyierte Ordnung als gesetzlose Tyrannei wahr und wendet sich ab.

Dass die Planspiele der Neocons, die seit bald 30 Jahren die US-Außenpolitik führen, nicht mehr aufgehen, zeigt sich immer deutlicher. Von der Front im Osten gibt es seit einem Jahr keine Erfolge mehr zu vermelden. Nur die Friedhöfe wachsen. Die mit großem Hurra verkündeten Sanktionen wirken ganz und gar nicht so wie angekündigt. Nach den Zahlen der gewiss nicht putinfreundlich gesinnten Weltbank hat Russland in den letzten zwei Jahren erst Deutschland, dann Japan überholt und ist auf den fünften Platz der weltgrößten Wirtschaftsnationen vorgerückt. Nirgends haben die Sanktionen mehr Wirkung gezeigt als in Europa. Kein Wunder, dass die Zweifel an der politischen Klugheit unserer regierenden Eliten wachsen.

Dass die entstehende Weltordnung neue Koordinaten setzt, kann und will Winkler nicht sehen. Er steckt in alten Feindbildern fest. Sein Denken bleibt schwarzweiß. Hier das gute Abendland, der Garten, um es mit dem Bild des Neocon Robert Kagan und seines europäischen Sprachrohrs Josep Borrell zu sagen. Dort der Dschungel, das Reich des Bösen, der Osten und auch der Süden, und der ganze Rest der Welt, der sich nicht der regelbasierten Ordnung unterwerfen will.

Aller propagandistischer Dauerbeschallung zum Trotz haben die Wähler, vor allem die jungen, längst bemerkt, dass an der Geschichte vom siegreichen Westen etwas nicht stimmt. Winkler macht für diese Einsicht all jene Parteien verantwortlich, die Zweifel an der Westbindung äußern. Aber womöglich haben die Jugendlichen von heute etwas Besseres im Sinn, als »kriegstüchtig« zu werden. Vielleicht wollen sie sich nicht von alten Männern, die unfähig sind, Frieden zu schließen, als Kanonenfutter verheizen lassen und wählen sie deshalb auch nicht.

Dass sich Sahra Wagenknecht und das BSW vom Russland Putins ebenso distanzieren wie vom Amerika der Neocons, passt nicht ins Bild des kalten Kriegers. »Den USA ziehen sie, wenn es zum Schwur kommt, das Russland Putins als Partner vor«, behauptet Winkler ohne Beleg und skizziert damit die Linie der Diffamierung, die sich im Vorlauf zur Bundestagswahl abzeichnet. Je schlechter es wirtschaftlich und militärisch laufen wird, desto schrillere Töne sind im kommenden Jahr zu erwarten.

In seinem Artikel bemüht der Historiker amüsanterweise ausgerechnet eine These von Karl Marx. »Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eigenen Zukunft.« So könnte die Sache durchaus ausgehen. Denn dank fürsorglicher Beihilfe befreundeter Westmächte ist Deutschland auf bestem Weg, sich industriell abzuschaffen. Irgendwann wird man vielleicht auch hierzulande so minder entwickelt sein, dass sich wieder eine Aussicht auf ein Bild mit Zukunft zeigt.

Einstweilen rät Winkler seinen Parteifreunden, nur ja nicht die Westbindung zu gefährden, indem sie auf die Forderungen Wagenknechts eingehen. Das muss ein guter Rat sein. Denn er kommt recht teuer.

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