Der andere Kafka
Von Sabine KebirFranz Kafka war in der DDR ein heißes Eisen. Er erfüllte die wichtigste Forderung des sozialistischen Realismus nicht, wonach ein Kunstwerk klassenbewusstes Proletariat zeigen sollte. Da dieses aber auch nicht bei wohlgelittenen bürgerlichen Autoren wie beispielsweise Thomas Mann auftauchte, kann das nicht der tiefere Grund gewesen sein. Der ist vielleicht im Kultstatus zu suchen, den Kafka in der Bundesrepublik genoss. Er galt als Prophet nicht nur des faschistischen, sondern auch des kommunistischen »Totalitarismus«, wovon sich die westliche Demokratie vorteilhaft abheben wollte. Manche Interpreten sahen in Kafkas Werk jedoch auch ein universales Zeugnis unentrinnbarer Entfremdung, die trotz Wirtschaftswundereuphorie im Unbewussten westdeutscher Intellektueller waberte. Aber kein Geringerer als Theodor Adorno stellte bereits 1953 klar: »Sein Werk hat den Ton des Ultralinken: Wer es auf das allgemein Menschliche reduziert, verfälscht ihn bereits konformistisch.« An anderer Stelle heißt es: »Kafka hält den Schlag der Stunde fest.« Und: »Kafka photographiert.« Damit warnte Adorno vor einer Mystifizierung Kafkas, vermochte ihn aber selbst nur philosophisch zu entmystifizieren: als »Aufklärer«.¹
Trotz der offiziellen Skepsis bezüglich Kafkas gab es einen Germanisten in der DDR, der schon in den 1950er Jahren über Kafka forschte, Vorlesungen an der Berliner Humboldt-Universität hielt und 1965 schließlich eine erste Gesamtausgabe herausgab. Klaus Hermsdorf (1926–2008) bewältigte diesen Drahtseilakt, indem er Kafkas Werk erdete und es in konkreten Bezug zu den Dokumenten seiner beruflichen Tätigkeit in der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherung (AUV) setzte. Nicht wenige von Kafkas Erzählungen, ja selbst die Grundstruktur seiner poetischen Bestrebungen haben einen Bezug zu den dort gemachten Berufserfahrungen. Hermsdorf arbeitete heraus, dass Kafka das Proletariat zwar nicht als revolutionäres Subjekt erlebte. Aber mit den komplexen gesellschaftlichen Widersprüchen, die es daran hinderten, zum Akteur in eigener Sache zu werden, setzten sich seine Parabeln doch sehr genau auseinander.²
Die Hölle der Unterklassen
Die 1908 in der AUV aufgenommene Tätigkeit war für ihn nicht nur äußerst frustrierend, weil sie ihm, wie meist vermutet, Zeit und Kraft für die literarische Arbeit raubte, sondern auch, weil die Einrichtung aus Sicht des für ihre gesetzlich fixierten Ziele durchaus engagierten »Concipisten« Dr. jur. Franz Kafka weit davon entfernt war, ihrem Credo zu entsprechen. Aus Hermsdorfs Forschung geht hervor, dass sich Kafka gar nicht erst als Prophet des »Totalitarismus« betätigen musste, sondern bereits die Welt, in der die Unterklassen in Böhmen lebten, als »totalitäre« Hölle wahrnahm. Der dort ausgebildete brutale Kapitalismus war durchsetzt mit bürokratisch-feudalen Residuen der Habsburger Monarchie, die sich zudem als ethnisch hierarchisiertes Völkergefängnis darstellte. In Böhmen stand das tschechische Proletariat auf der niedersten Stufe der Gesellschaft: als Dienstboten, als Industriearbeiterschaft und schließlich auch im bereits zu Friedenszeiten gehassten Militärdienst. Im 1914 publizierten ersten Kapitel des Amerika-Romans »Der Heizer« wird gezeigt, wie der im ethnisch hierarchisierten Proletariat herrschende Rassismus den solidarischen Zusammenschluss zum Widerstand verhindert. Der als Bürgersohn erzogene Karl Rossmann lernt fassungslos, dass die selbstverständliche Nutzung demokratischer Rechte ein Privileg der Oberklassen ist, und der Heizer, mit dem er sympathisiert, seine Rechte nicht wahrzunehmen weiß, sie womöglich nicht einmal kennt.
Die AUVen im Habsburger Reich waren aus demselben Impuls wie die Sozialreformen Bismarcks entstanden: Man hatte erkannt, dass »eine über die Klasseninteressen sich erhebende Monarchie, welche die Fahne wahrer Reformen ergreift (…) ein viel höheres Alter erreichen könne als durch die Bajonette«. 1885 kündigte Kaiser Franz Josef erste Sozialgesetze und die Gründung von AUVen an.³ Mit ihnen entstanden auch Regeln zum Arbeitsschutz. Nur die Unternehmen zahlten Beiträge, die sich nach einer Skala von 14 Gefahrenklassen richteten. Einstufung und Kontrolle der Betriebe gehörten zu Kafkas Aufgaben. Da die Löhne der Arbeiter zu gering waren, zahlten sie nicht ein, hatten aber auch keine Vertretung in den AUVen.
In Kafkas erster juristischer Schrift für die Prager AUV zum »Umfang der Versicherungspflicht der Baugewerbe und der baulichen Nebengewerbe« von 1908 definierte er die Institution als Mittler zwischen den Interessen der Arbeiter (»Schutz möglichst vieler Arbeiter, Entschädigung möglichst vieler Unfälle«) und der Unternehmer (»möglichst niedriger Beiträge durch gerechte Verteilung auf möglichst viele Unternehmer«). Er beklagte, dass die AUV »offener und heimlicher Feindseligkeit auf beiden Seiten« begegne, wobei die Unternehmerseite mittels einer organisierten »Lobby« agiere. Im Streit um eine gesetzlich verfügte Ausgliederung kleiner Betriebe aus der Versicherungspflicht bedauerte Kafka, dass »die Stimme der Arbeiterschaft völlig fehlte (…). Und doch standen hier ihre vitalen Interessen in Frage; es war nicht abzusehen, wie sich die Unternehmer im allgemeinen entscheiden werden, und sicherlich hätte das Eingreifen der Arbeiter besonders in der Übergangszeit eine noch günstigere Sachlage hervorgebracht. Aber die Arbeiter verhielten sich gleichgültig (…). Vielleicht liegt der Grund darin, dass es sich hier meist um kleinere Betriebe handelt, deren Arbeiter nicht genügend organisiert sind, während in den großen Betrieben von vornherein die Versicherung im ganzen Umfang aufrechterhalten wurde.«
»Verwirrung der Rechtsverhältnisse«
Laut Hermsdorf entdeckte Kafka hier die Industrie als »Brennpunkt mächtiger Interessengegensätze« und beklagte eine »gefährliche Verwirrung der Rechtsverhältnisse«, einen Rückschritt auf Kosten der Arbeiter, was »Unzufriedenheit« fördere. »Denn während sie eine geraume Zeit hindurch die beruhigende Gewissheit hatten, durch Versicherung gegen die Folgen aller möglichen Betriebsunfälle geschützt zu sein, so wird dies heute nicht mehr immer der Fall sein. Und die Arbeiter müssen, wenn sie als Laien, aber als die Interessiertesten, die Sache betrachten, zu dem Glauben kommen, dass nicht Prinzipien, sondern Zufälligkeiten das Versicherungswesen beherrschen.«
Die beruflich festgestellte »Verwirrung der Rechtsverhältnisse« wird zu Kafkas literarischem Hauptgegenstand. Anders, als er es selbst öfter beschrieb, war er in seiner Brotarbeit durchaus engagiert. Auf seine erste juristische Schrift war er sogar stolz, denn er schickte sie nicht nur seiner Verlobten Felice Bauer. Unergründlich bleibe, so Hermsdorf, weshalb er sie auch an Franz Blei, den Redakteur von Hyperion – eine »Zeitschrift von distinguierter Vornehmheit« – sandte. Blei hatte kurz zuvor erste poetische Texte Kafkas veröffentlicht, ihm lag aber nichts ferner als die Versicherungspflicht im österreichischen Baugewerbe. Noch seltsamer war Kafkas Begleitschreiben, aus dem hervorzugehen scheint, dass er Blei die tschechische Version sandte, die in der AUV neben der deutschen obligatorisch war: »Da Ihnen, wie ich glaube, am Tschechischen soviel gelegen ist, schicke ich Ihnen unter Kreuzband einen eben erschienenen Jahresbericht meiner ›Anstalt‹, der bis zur 22. Seite von mir geschrieben ist. Nehmen Sie ihn freundlich an.«
Empfand Kafka seinen Text als literarisch? Jedenfalls hatte er Blei auf die »tschechische Wirklichkeit handgreiflicher Wirtschaftstatsachen«⁴ aufmerksam gemacht, die in seinen literarischen Werken konkret wiederzuerkennen sind. So sehr es die etablierte Kafka-Forschung vor den Kopf stoßen mag – Teile seines Werks erscheinen als Vorläufer der Betriebsreportagen der Arbeiterkulturbewegung der 1920er Jahre, an die durchaus auch literarische Ansprüche gestellt wurden.
Dass Kafka keinen der Prozesse verlor, in denen er die Prager AUV als Jurist vertrat, zeigt, wie stark er sich für die Unfallopfer einsetzte. Weil diese das ihnen Zugestandene jedoch als Almosen betrachten mussten, verhielten sie sich entsprechend demütig, was dem außergewöhnlich emphatischen Kafka psychische und physische Qualen bereitete – dieselben, die Karl Rossmann im Amerika-Roman angesichts der Unfähigkeit des zur eigenen Verteidigung unfähigen Heizers empfindet. 1913 notierte Kafka ins Tagebuch, dass er »geschluchzt« habe, als er von einer Frau las, die ihr »fast dreiviertel Jahre altes Kind wegen Not und Hunger erwürgte«.⁵ Auch der Erzähler in »Auf der Galerie« weint, als ihm die brutale Zurichtung bewusst wird, die vor dem mit Pomp und Gloria inszeniertem Auftritt einer noch kindlichen Zirkusreiterin stattgefunden haben muss. Dass Kafka gnadenlose Ausbeutung auch in einer Kulturinstitution wie dem Zirkus wahrnahm, zeigt, dass er sie als universelles Phänomen erkannte.
Während der Widerstandsversuch des Heizers an seiner Schüchternheit scheitert, tritt in der Erzählung »Neue Lampen« ein Bergarbeiter als Fürsprecher der Kumpel gegenüber der Unternehmensleitung beherzter auf und fordert bessere Lampen als Arbeitsgeräte. Man lobt ihn, verspricht, den Vorschlag gründlich zu prüfen, verhöhnt ihn aber: Er solle seinen Leuten mitteilen: »Solange wir nicht aus eurem Stollen einen Salon gemacht haben, werden wir hier nicht ruhen, und wenn ihr nicht schließlich in Lackstiefeln umkommt, dann überhaupt nicht. Und damit schön empfohlen!«⁶ Das ist eine krasse Beschreibung der Rolle, in die frühe Gewerkschaften gedrängt wurden.
Weitere Werke lassen sich in direkte Verbindung mit Kafkas Betriebsinspektionen bringen. In einem Bericht von 1915 über Zustände in einem Steinbruch heißt es, dass die »Lebensgefährlichkeit der Arbeit in diesem Bruche (…) jeder Laie erkennen« müsse. »Ununterbrochen rollen Steinstücke herunter.«⁷ Im zur selben Zeit entstandenen Roman »Der Prozeß« wird Josef K. in einem »kleinen Steinbruch« hingerichtet. Das Henkersmesser trifft ihn »nahe der Bruchwand, es lag dort ein losgebrochener Stein«.⁸ Im Kapitel »Hotel Occidental« des Amerika-Romans wird der tödliche Unfall einer obdachlosen, völlig übermüdeten arbeitslosen Frau erzählt, der eine Arbeit bei einer Baufirma versprochen war. Bevor sie sich in der Bauhütte gemeldet und einen Vertrag geschlossen hat, klettert sie – vor den Augen ihrer staunenden kleinen Tochter – auf das Baugerüst und stürzt in den Tod. Solcherart »selbstverschuldete« Unfälle stellten für das große Empathievermögen des Versicherungsjuristen Kafka wohl eine besonders schwierige Herausforderung dar.
In »Ein Besuch im Bergwerk« wird die soziale Kluft zwischen den Bergleuten und Ingenieuren, die einen Stollen vermessen, als Begegnung von »Lebewesen unvergleichbarer Gattungen« beschrieben. Die Arbeiter, denen die Funktionen der Geräte unverständlich sind, erscheinen als undifferenzierte Masse, während die Ingenieure zu unterscheidbarer Individualität aufgestiegen sind. Die ursprünglich »Kastengeist« betitelte Erzählung, ist eine eindringliche Darstellung der hierarchisierten Gesellschaft, die sowohl erfüllende als auch entfremdete Arbeit hervorbringt.
Entfremdung allerorten
Dass Kafka der Frage der entfremdeten Arbeit auch literarisch nachging, war Ergebnis beruflicher Erfahrungen. Hermsdorf hält fest, dass er direkt konfrontiert gewesen sei mit dem »Resultat jener geschichtlich fortschreitenden Teilung der Arbeit, die auch den Menschen teilt und der Ausbildung einer einzigen Tätigkeit alle übrigen körperlichen und geistigen Fähigkeiten zum Opfer bringt«.⁹ Der aus gutem Hause stammende, in »Amerika« zum Liftboy degradierte Karl Rossmann wird zum bloßen Anhängsel »der Maschinerie des Aufzuges«, mit der er »nur insofern etwas zu tun hatte, als er ihn durch einen einfachen Druck auf den Knopf in Bewegung setzte, während für Reparaturen am Triebwerk ausschließlich die Maschinisten des Hotels verwendet wurden«. Der ehemalige Liftboy Giacomo hatte, »trotz halbjährigem Dienst beim Lift, weder das Triebwerk im Keller noch die Maschinerie im Inneren des Aufzuges mit eigenen Augen gesehen (…), obwohl ihn dies, wie er ausdrücklich sagte, sehr gefreut hätte«.¹⁰
Als entfremdet empfand Kafka auch die eigene Arbeit. Er war Schriftsteller nur in seiner freien Zeit. Seine Tätigkeit in der AUV bestand aus umständlichem bürokratischem Registrieren von Missständen, die zum großen Teil unbehebbar blieben. Die Gesetze des Unfallschutzes und der sozialen Sicherung nach Unfällen, mit denen er umgehen musste, waren für die, für die sie gemacht waren, faktisch wirkungslos. Diese konkrete Erkenntnis verdichtete sich in der Erzählung »Vor dem Gesetz« und in dem Roman »Der Prozeß« auf einer abstrakteren und daher für spätere Generationen auch verallgemeinerbaren Ebene: »K. lebte doch in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden aufrecht, wer wagte, ihn in seiner Wohnung zu überfallen?«¹¹ Der Grund für K.s Verhaftung bleibt auch deshalb unklar, weil die Arbeitsbereiche der seinen Fall bearbeitenden Beamten fest abgesteckt sind und nicht ineinandergreifen. Hermsdorf meint, dass Kafka in »Das Schloss« die »Geheimnisse der Ämter und des Beamtenlebens so hemmungslos als seine eigenen (…) wie sonst nirgends« ausgebreitet habe. Die Hauptfigur sei Verkörperung »seiner Kämpfe und Kampfziele, seiner Sehnsucht, seines Lebensanspruchs. Das wirkliche Sein Kafkas, seine Verfassung im Alltag und Beruf, findet hingegen in den Beamtenfiguren des Romans einen Niederschlag von oft überraschender autobiografischer Stimmigkeit. Schon ihre Dienstbezeichnungen sind die in der Arbeiterunfallversicherungsanstalt und im österreichisch ungarischen Behördenwesen üblichen.«¹²
Dabei ging Kafka durchaus davon aus, dass die AUVen die Organisation ihrer Arbeit ständig verbessern könnten, dass die Versagensrate aber nicht sinken würde. Denn die zunehmende Zahl und Größe der Ämter werden zur Fehlerquelle, die Zuständigkeiten unklarer. Um Fehlermöglichkeiten einzugrenzen und zu finden, braucht es Kontrollämter, die wiederum kontrollbedürftig seien. Letztlich können Kontrollinstanzen Entscheidungen verhindern, womit die Gefahr bestünde, dass die ganze vom Gesetz vorgeschriebene Institution »in der freien Schwebe der Entscheidungslosigkeit« verharrt¹³ – ein bis heute virulentes Problem.
Weil Kafkas Fähigkeiten als Jurist und »Concipist« für die AUV unverzichtbar waren, wurde er vom Kriegsdienst befreit, musste aber eine längere Arbeitszeit in Kauf nehmen. Probleme, die der Krieg mit sich brachte, gehörten fortan zu seinen Aufgaben; so ab 1915 die Kriegsbeschädigtenfürsorge. Aber schon im Jahresbericht für 1914 warnte er, dass sowohl die Wirtschaftsleistung als auch die Lohnsummen und somit auch die Einnahmen der ohnehin stark defizitären AUV im Krieg schrumpfen würden. Und er beklagte, dass sogar Bezieher von Unfallrenten schon in den ersten Kriegstagen einberufen worden waren. »Verwundungen und Erkrankungen im Kriege werden sich auf den Organismus dieser Personen dahin äußern, dass die früheren Unfallfolgen vergrößert und dass sie selbst nach Wiedereintritt in die Arbeit einer größeren Unfallgefahr ausgesetzt« seien.¹⁴ Der Krieg habe einen Monopolisierungsprozess, »eine Auslese innerhalb der Betriebe bewirkt; die am schlechtesten zahlenden Betriebe sind ausgeschieden, vor allem natürlich das Baugewerbe«. Betriebe, »die mit Heereslieferungen bedacht waren« und Überstunden und Sonderschichten ansetzen konnten, florierten dagegen.¹⁵
»Ungeheure Leidensschar«
Im Jahresbericht von 1917 konstatierte Kafka, dass der Krieg auf dem Gebiet der Unfallverhütung »nicht nur eine Unterbrechung«, sondern »eine teilweise Zerstörung des schon Erreichten« bewirke. Das läge nicht nur an den vielen vorgeschädigten und neuen, unerfahrenen Arbeitskräften. Die »heutige Lage des Arbeitsmarktes«, erschwere es, »genügend rasch die notwendigen Maschinen und natürlich um so schwerer die notwendigen Schutzvorrichtungen zu erhalten, besonders wenn man hierbei auf die Arbeit von Handwerkern angewiesen ist«.¹⁶
1916 hatte Kafka einen von ihm verfassten und unterschriebenen Aufruf zur Gründung eines »Vereins zur Errichtung und Erhaltung einer Krieger- und Volksnervenheilanstalt« unterschrieben, der auf die Erweiterung der völlig unzureichenden Kapazitäten der Nervenkliniken dringen sollte. Darin heißt es: »So wie im Frieden der letzten Jahrzehnte der intensive Maschinenbetrieb die Nerven der in ihm Beschäftigten unvergleichlich mehr als jemals früher gefährdete, störte und erkranken ließ, hat auch der ungeheuerlich gesteigerte maschinelle Teil der heutigen Kriegshandlungen schwerste Gefahren und Leiden für die Nerven der Kämpfenden verursacht.« Der »nervöse Zitterer und Springer in den Straßen unserer Städte ist nur ein verhältnismäßig harmloser Abgesandter der ungeheuren Leidensschar«.¹⁷ Auf Grund seiner Verantwortung in der Kriegsbeschädigtenfürsorge war Kafka bekannt, dass Kriegstraumatisierte, die an der Zitterkrankheit litten, mit Elektroschocks traktiert wurden, um sie gegebenenfalls als Simulanten zu entlarven und erneut in den Krieg zu schicken. Darüber aber musste er auf Grund einer betrieblichen Vereinbarung schweigen.¹⁸
Die Tötungsmaschine in der im Oktober 1914 – also zwei Monate nach Kriegsbeginn – entstandenen Erzählung »In der Strafkolonie« offenbart, wie sehr sich Kafka schon damals der ins Gigantische gewachsenen Gefahr des industriellen Folterns und Tötens bewusst war. Seiner Überzeugung nach ging sie keineswegs nur von Kriegswaffen aus, sondern von der grundsätzlichen Ambivalenz der technischen Entwicklung. Das von Felice Bauer beruflich vertriebene neuartige Diktiergerät, der »Parlograph«, inspirierte ihn zum literarischen Konstrukt eines Apparats, der den in einer Strafkolonie zum Tode Verurteilten den Schuldspruch in Schriftform in den Körper fräst – also diktiert.
Ungewisser Fortschritt
Mit seinem dialektischen Technikverständnis war Kafka ein Antipode der sich damals konstituierenden Künstlergruppe der Futuristen, die die technische Entwicklung vorbehaltlos feierten und insbesondere die moderne Kriegstechnik als Mittel zur weltweiten Durchsetzung der angeblich überlegenen weißen Rasse geradezu verherrlichten.
Die gleichsam Mittelalter und Moderne repräsentierende Tötungsmaschine wird in Kafkas »Strafkolonie« mehr und mehr infrage gestellt und nicht mehr repariert, bis sie während der Tötung des letzten, sie bedienenden Offiziers zusammenstürzt. Das zeigt, dass Kafka einen Fortschritt für möglich hielt. Allerdings verläuft er zu langsam und voller Ungewissheiten.
Der »Forschungsreisende«, der im Auftrag einer internationalen Organisation die Tötungsmaschine begutachten soll, kann aus heutiger Sicht als ein Aktivist der oft überforderten, wenn nicht gar hilflosen Menschenrechtsorganisationen gesehen werden. Diese in einer französischen Kolonie angesiedelte Erzählung weist ausdrücklich darauf hin, dass die Fortschritte von Technik und Rechtsstaatlichkeit keineswegs automatisch parallel verlaufen. Das gilt nicht nur rückblickend für Auschwitz, sondern muss auch angesichts der aktuellen rasanten Entwicklung von künstlicher Intelligenz im Blick bleiben.
Der französische Soziologe Michael Löwy zitiert Dokumente, wonach Kafka während seiner aktiven Zeit als Beamter der AUV an Versammlungen einer »libertären, antimilitaristischen und antiklerikalen Organisation« und an Kundgebungen gegen Hinrichtungen libertärer Aktivisten teilnahm. 1910 bis 1912 habe er sich auch an anarchistischen Konferenzen über die freie Liebe, die Kommune von Paris und den Frieden beteiligt. Briefe an Milena Jesenská erwähnen zweimal einen am 25. August 1920 im Prager Tageblatt publizierten Artikel Bertrand Russells »Über das bolschewistische Russland«, der, wie Kafka schreibt, einen starken Eindruck »auf meinen Körper, meine Nerven, mein Blut« gemacht hätte. Das, was in dem Artikel kritisiert werde, sei für ihn »das höchste auf Erden mögliche Lob«.¹⁹ Da auch der Bolschewismus keinen Rechtsstaat herstellte, kann man sich den späteren Kafka, wenn er denn länger als bis 1924 gelebt hätte, nur in kritischer Distanz zur Sowjetunion denken. Ob er sich, wie Löwy vermutet, eine libertäre Welt ohne Staat und Recht wünschte, ist eher unwahrscheinlich.
Klaus Hermsdorf gehört zu den wenigen Germanisten aus der DDR, der seine Lehrtätigkeit nach der »Wende« fortsetzen konnte. Seine Sammlung der »Amtlichen Schriften« Kafkas erschien erneut 2004. Der Kafka-Kult im 100. Todesjahr konzentrierte sich auf Kafkas von psychischem Leiden geprägtes Privatleben und das bürgerliche Leben seiner jüdischen Familie. Das Werk blieb weitgehend ausgeblendet, obwohl die Kafkas Dichtung eingebrannten konkreten Antriebe dringender denn je verstanden und bearbeitet werden müssen.
Anmerkungen:
1 Theodor W. Adorno: Aufzeichnungen zu Kafka. In: Prismen, Kulturkritik und Gesellschaft. Gesammelte Schriften, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1953, S. 274, 283 u. 284
2 Im Folgenden mache ich Anmerkungen zu Zitaten und Interpretationen aus dem von Klaus Hermsdorf eingeführtem und herausgegebenen Dokumentenband: Franz Kafka: Amtliche Schriften, Akademie-Verlag Berlin 1984. Wo keine Anmerkung erfolgt, handelt es sich um meine Interpretation von Kafkas Motiven.
3 Klaus Hermsdorf: Arbeit und Amt als Erfahrung und Gestaltung. In: ebd., S. 14
4 Ebd., S. 25 ff.
5 Ebd., S. 47
6 Ebd., S.49
7 Franz Kafka: Die Unfallverhütung in den Steinbruchbetrieben (1915), zit. n. ebd., S. 261
8 Ebd., S. 40
9 Ebd., S. 87
10 Ebd., S. 106
11 Franz Kafka: Der Prozess, Frankfurt/M. 1971, S. 9
12 Klaus Hermsdorf, a. a. O., S. 80 f.
13 Ebd., S. 85 f.
14 Franz Kafka: Brief an den Vorstand (der AUV), 27.1.1915, zit. n. ebd., S. 211
15 Ebd., S. 241 u. 228
16 Ebd., S. 283 ff.
17 Ebd., S. 295
18 So der Kafka-Biograph Rainer Stach im Film »Kennen Sie Kafka?«, der am 3. Mai 2024 auf Arte ausgestrahlt wurde.
19 Michael Löwy: Kafka und der Sozialismus, Sozialistische Zeitung, Juli 2004, S. 24
Sabine Kebir schrieb an dieser Stelle zuletzt am 16. Juli 2024 über Kafkas Verwurzelung in der tschechischen Sprache.
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