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Aus: Ausgabe vom 08.10.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
El Salvador

Bukeles Modell

El Salvador: Hipsterautokrat mit Strahlkraft in Lateinamerika. Harte Repression gegen Bandengewalt als Vorbild?
Von Tom Beier
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Sieht sich selbst als »coolsten Diktator« und gibt sich auch so: Bukele am 16. Juli in Ciudad Arce

Kürzlich reiste eine junge Salvadorianerin, die schon länger in Deutschland lebt, nach Peru. Das erste, was sie zu hören bekam, war: »Was, du stammst aus El Salvador? Na, herzlichen Glückwunsch zu einem Präsidenten, der endlich einmal die Probleme an der Wurzel packt und das Gewaltproblem in eurem Land beseitigt hat. « Besonders in Lateinamerika erntet Nayib Bukele Bewunderung. So nennt der rechte ecuadorianische Präsident Daniel Noboa, im vergangenen Jahr ebenfalls als juveniler »Antipolitiker« angetreten, Bukele als sein Vorbild im Kampf gegen die grassierende Drogenkriminalität im vormals so ruhigen Ecuador. Selbst die linke Regierung in Honduras unter Xiomara Castro, die versucht, den zuvor errichteten gewalttätig-korrupten Narcostaat zu demontieren, blickt erstaunt-bewundernd über die Grenze auf die Erfolge des Hipsterautokraten.

Aber was charakterisiert Bukeles Modell? Regime des Ausnahmezustands; Massenfestnahmen; Gesetzesreformen, etwa die Senkung der Altersgrenze bei Strafen für Gangkriminalität oder Massenprozesse und zunehmende Medienkontrolle mit besonderem Schwerpunkt auf sozialen Netzwerken. Aber auch die »Verführung des Unmittelbaren«. Statt nebulöser »Chancengleichheit« konkrete individuelle Bewegungsfreiheit. Jahrelang konnte man bei Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf die Straße gehen. Jetzt gibt es in San Salvador eine Fußgängerzone, auf der die Menschen im milden Schein gedimmter Straßenbeleuchtung flanieren. Die nächste Frage lautet: Warum hat Bukeles Politik der »Mano dura« (harte Hand) gegen die Jugendbanden funktioniert? Schließlich war er nicht der erste, der es mit der eisernen Faust probiert hat.

Als er 2019 an die Macht kam, war die Mordrate bereits seit drei Jahren gesunken. Von 107 je 100.000 Einwohner 2015 auf 53 im Jahr 2018. Ein Verdienst der vormaligen linken FMLN-Regierung. Auch sie hatte bereits geheime Gespräche mit den Bandenbossen begonnen, die Bukele fortsetzte. Drei Jahre Verhandlungen haben schließlich einen Spalt zwischen Gangleader und Mitglieder getrieben. So konnte das Bukele-Regime, als es Anfang 2022 zum großen Schlag ausholte, einfach die Kommunikation zwischen »Ranflas« (inhaftierten Bossen) und Basis abschneiden. Außerdem: Es gab eine relative Schwäche der salvadorianischen Gangs – etwa im Vergleich mit den besser finanzierten mexikanischen Kartellen.

Aber wieso ließ sich Bukeles Politik nicht einfach nachahmen? Beispiel Honduras: Präsidentin Castro versuchte Bukele zu kopieren, aber ihr Durchgreifen war limitierter hinsichtlich Umfang und Intensität. Die Ergebnisse waren bescheiden. Das Ziel, die Anzahl von Erpressungen deutlich zu reduzieren, wurde verfehlt. Sie stiegen sogar um elf Prozent an, das höchste Level seit fünf Jahren. Beispiel Ecuador: Zunächst präsentierte sich Präsident Noboa als gemäßigt, aber im Dezember 2023 starte er die »Operación Metástasis« gegen die organisierte Kriminalität. Auch er verhängte einen Ausnahmezustand. Aber die Gangs blieben handlungsfähig, antworteten mit einer Welle gewalttätiger Attacken.

Werden »Erfolg« und Strahlkraft von Bukeles Modell bleiben? Immerhin haben ihm bei der diesjährigen Wahl 84 Prozent der Salvadorianern ihre Stimme gegeben. Eine Möglichkeit ist dennoch, dass die Begeisterung – auch im Land – nachlässt. Meist folgt auf Enthusiasmus für populistische Projekte Ernüchterung. Vermutlich wird der Hype jedoch noch so lange anhalten, wie die Bandenkriminalität die Menschen plagt. Dagegen werden sie an der Urne den starken Staat fordern. Entsprechend sieht es so aus, dass El Salvador vorerst ein »Staat ohne Banden und ohne Demokratie« bleibt. Andererseits: Der Ausnahmezustand wird sich nicht ewig aufrechterhalten lassen. Der internationale und innere Druck gegen die Diktatur wird größer. Während die einen unter Laternen wandeln, sind Tausende Unschuldige inhaftiert. Auf Dauer ist diese repressive Sicherheitsstrategie nicht nachhaltig. Sie beschädigt die staatlichen Institutionen. Implodiert aber sein Modell, wird Bukele das politisch nicht überleben.

Hintergrund: »Ausnahmezustand ohne Ende?«

Unter diesem Titel haben sich Gruppen der El-Salvador-Solidarität am letzten September-Wochenende in Frankfurt am Main getroffen. Als Gäste aus dem mittelamerikanischen Land waren Vidalina Morales von der Asociación de Desarrollo Económico Social (Verein für Sozialwirtschaftliche Entwicklung, ADES) und Marisela Ramirez vom Bündnis zivilgesellschaftlicher Initiativen, Bloque de Resistencia, eingeladen.

Zwei Schlaglichter auf die aktuelle Situation El Salvadors, die teils auch auf dem Bundestreffen für Aufsehen sorgten: Beim Absturz eines Militärhubschraubers an der Grenze zu Honduras während eines Gewitters sterben Anfang September alle neun Insassen. Darunter der oberste Polizeichef Mauricio Arriaza, eine Schlüsselfigur im Kampf gegen die Jugendbanden, sowie der nach dem Zusammenbruch der von ihm geleiteten Pensionskasse in das Nachbarland geflohene und ohne Verfahren ausgelieferte Manuel Coto. Er hatte 35 Millionen US-Dollar veruntreut. An Bord befanden sich weitere hochrangige Sicherheitskräfte. Alles ein Zufall? Oder eine Abrechnung von Präsident Nayib Bukele mit internen Widersachern? Vermutet wird auch eine Fehde im Drogenmilieu, in die salvadorianische Regierungskreise verwickelt sein sollen.

Seit mehr als 20 Monaten sitzen fünf Umweltschützer von ADES im Gefängnis bzw. sind unter Hausarrest gestellt. Ihr »Verbrechen«? Mit ihrer NGO hatten sie sich gegen ein geplantes Goldbergbauprojekt des kanadischen Multis Pacific Rim gestellt. 2017 führte diese Planungen zur Verabschiedung eines Gesetzes, das extraktiven Bergbau verbietet. Nun werden die Männer angeklagt, während des Bürgerkriegs 1989, in dem sie auf seiten der Befreiungsfront FMLN kämpften, eine Frau ermordet zu haben. Vermutet wird hinter der Kriminalisierung der Aktivisten ein Versuch der Regierung Bukeles, Bergbau im Land wieder zuzulassen.

Zwei Schlaglichter, die erhellen, dass die Außendarstellung des Hipsterpotentaten, El Salvador sei das sicherste und freundlichste Land der Welt, bloße Fassade ist. Der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof hat in einem im September vorgestellten Bericht belegt, dass zwischen dem Beginn des Ausnahmezustands im März 2022 und Ende vergangenen Jahres 73.000 Menschen, mehr als ein Prozent der Bevölkerung, inhaftiert wurden. Zum Vergleich: In Deutschland wären das 850.000 Personen.

Anzeichen dafür, dass Bukele, der sich selbst als »coolsten Diktator der Welt« bezeichnet, den seit Beginn 29mal verlängerten »Estado de emergencia« aufheben wird, gibt es übrigens nicht. (tb)

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