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Aus: Ausgabe vom 08.10.2024, Seite 4 / Inland
Justiz und DDR

Herausragende Bedeutung

Berlin: Schlussplädoyers im Prozess gegen ehemaligen MfS-Mitarbeiter. Staatsanwaltschaft will zwölf Jahre Haft
Von Nico Popp
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Der Angeklagte (l.) und der Vorsitzende Richter Bernd Miczajka am ersten Prozesstag (Berlin, 14.3.2024)

Der Prozess gegen einen ehemaligen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, dem die Berliner Staatsanwaltschaft heimtückischen Mord vorwirft, steht vor dem Abschluss. Nach dem Ende der Beweisaufnahme haben am Montag Staatsanwaltschaft, Nebenklage und Verteidigung vor der 29. Strafkammer des Berliner Landgerichts die Schlussplädoyers vorgetragen.

Manfred N., Jahrgang 1943, einst Mitarbeiter der für Passkontrolle und Fahndung zuständigen Hauptabteilung VI des MfS, hat nach Ansicht von Staatsanwältin Henrike Hillmann, die den Prozess mehr beobachtete als beeinflusste, am 29. März 1974 im Bereich der Grenzübergangsstelle am Bahnhof Friedrichstraße in Berlin-Mitte den polnischen Staatsbürger Czesław Kukuczka »in Tötungsabsicht« aus einem »perfiden Hinterhalt« heraus von hinten niedergeschossen. Dabei habe N., der nicht nur Passkontrolleur, sondern für die Abwehr terroristischer Bedrohungen geschult war, einen Entscheidungsspielraum gehabt: Es sei möglich gewesen, Kukuczka – der zuvor in der polnischen Botschaft gedroht hatte, einen (vermeintlich) in seiner Aktentasche mitgeführten Sprengsatz zur Explosion zu bringen – die Tasche ohne Schusswaffeneinsatz abzunehmen.

Kukuczka habe zum Zeitpunkt der Schussabgabe, als er nach der letzten Passkontrolle den Durchgang zu den Bahnsteigen betreten hatte, nicht mehr mit Maßnahmen gegen sich gerechnet. Auf dieser Konstruktion basiert die gesamte Mordanklage: Kukuczka, der dabei war, sich mit einer Bombendrohung die Ausreise nach Westberlin zu erzwingen, sei in diesem Moment arglos gewesen, weil die Anspannung von ihm abgefallen sei. Hillmann spekulierte, dass mit dem Schuss möglicherweise der ungesetzliche Grenzübertritt »gesühnt« werden sollte. Und gab es nicht auch ein »eigensüchtiges Motiv« bei N., nämlich das der Förderung der persönlichen Karriere? Hillmann beantragte unter Heranziehung des einschlägigen Paragraphen im Strafgesetzbuch der DDR zwölf Jahre Haft.

Die beiden anwesenden Vertreter der Nebenklage, Hans-Jürgen Förster und Rajmund Niwinski, traten anders auf. Der ehemalige Bundesanwalt Förster versuchte, die Argumentation der Staatsanwältin mit allgemeinen Erwägungen abzustützen und verwies auf die angeblich »herausragende zeitgeschichtliche Bedeutung« des Verfahrens. Er stellte fest, dass bislang noch nie ein ehemaliger Mitarbeiter des MfS wegen Mordes verurteilt worden sei – ließ aber offen, ob er das als Aufforderung an das Gericht verstanden wissen wollte, diesem Mangel abzuhelfen. An jenem 29. März 1974 sei der Tod Kukuczkas von allen Beteiligten auf der Seite des MfS gewollt worden. Die nach der Schussabgabe durchgeführte medizinische Versorgung sei nicht ernstlich »auf Rettung aus« gewesen, und die Bombendrohung habe ohnehin niemand ernstgenommen. Allerdings hat der Prozess für keine einzige dieser Behauptungen Beweise erbracht. Ein Strafmaß beantragte Förster nicht.

Viel zurückhaltender äußerte sich Niwinski. Den Hinterbliebenen sei es nicht um einen Schuldspruch gegangen, sondern um Aufklärung. Das von Hillmann geforderte Strafmaß nannte er »zu hoch«. Und er betonte im Gegensatz zu Förster, dass es einen Rettungsversuch gegeben habe – Kukuczka starb auf dem OP-Tisch im Haftkrankenhaus Hohenschönhausen. Auch Niwinski beantragte kein Strafmaß.

Andrea Liebscher, die Verteidigerin von N., stellte fest, dass N. jahrelang keinerlei Kenntnis davon hatte, dass gegen ihn ermittelt wurde. Sie sage nicht, dass Kukuczka ein Terrorist war, doch sei es natürlich relevant, dass hier eine Bombendrohung im Raum stand. Heute ließe sich sagen, Kukuczka habe nur geblufft, doch müsse er »gut genug geblufft haben«. Bei der Schussabgabe möge er wehrlos gewesen sein – arglos aber »in Sichtweite von Uniformierten« nicht. Wer mit einer Bombe durch ein Bahnhofsgebäude laufe, müsse damit rechnen, dass man ihn daran hindert. Liebscher bezweifelte zudem, dass eindeutig erwiesen sei, dass N. geschossen hat – und beantragte Freispruch.

Der Prozess hatte im März begonnen und dauerte länger als geplant. Wesentliche Sachverhalte waren im Vorfeld von der Staatsanwaltschaft nicht ermittelt worden. Die ursprüngliche Anklage, hob Liebscher hervor, fußte allein auf der »eher dünnen« Aktenlage nach mehreren eingestellten Ermittlungsverfahren aus den vergangenen Jahrzehnten. Der am ersten Prozesstag zum Resultat der Ermittlungen vernommene LKA-Beamte hatte sich mit diesem Material erkennbar nur oberflächlich beschäftigt. Aufgefallen war bis zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht, dass das Hauptbelastungsmittel gegen N. – der Text eines Auszeichnungsvorschlags, in dem von der »Anwendung der Schusswaffe« durch N. die Rede ist – über den ursprünglichen, anderslautenden Text geklebt worden war.

War sich noch 2017 ein Berliner Staatsanwalt sicher gewesen, dass hier keinerlei Anhaltspunkte für einen Mord vorlägen (sondern allenfalls für einen – verjährten – Totschlag), weil Kukuczka »jedenfalls nicht arglos« gewesen sei, sah die Staatsanwaltschaft das – nachdem Polen die Auslieferung von N. beantragt hatte – 2022 auf einmal anders. Das Urteil wird am 14. Oktober verkündet. Ein Schuldspruch im Sinne der Anklage wäre nach Lage der Dinge eine Überraschung.

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