»Ein Leben, ohne einen Gedanken an Geld verschwenden zu müssen«
Von Hagen BonnDas altehrwürdige Kino Babylon, 1928/29 im Stil der »Neuen Sachlichkeit« erbaut, wurde Zeuge von Größe und Elend deutscher Geschichte: Demonstrationen der KPD auf seinem Vorplatz gegen Faschismus, Hunger und Kälte, die Parteizentrale lag nebenan. Aber auch Überfälle der SA und schließlich die Besetzung des Karl-Liebknecht-Hauses 1933 durch die an die Macht geschobenen Faschisten. Da war es angemessen, den 75. Jahrestag der Gründung der DDR genau hier zu feiern, mit Redebeiträgen, einem Podiumsgespräch, Musik und einer Vorstellung des filmischen Denkmals »Die Legende von Paul und Paula« zum Abschluss. Auf Einladung der jungen Welt kamen am Sonnabend 500 Gäste, um einen Staat zu ehren, der nicht mehr existiert, aber auch 34 Jahre nach seiner Zerstörung, vor allem im Osten der Republik, so lebendig ist, dass er bis heute Ziel hasserfüllter Attacken der vermeintlichen Sieger der Geschichte wird. »75 Jahre DDR. Was bleibt?« lautete die Frage, der man sich annähern wollte.
Kein Geringerer als der letzte Generalsekretär des ZK der SED und Staatsratsvorsitzende der DDR im Herbst 1989, Egon Krenz, sprach zum Auftakt über die Mission des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden. 40 Jahre DDR bedeuteten 40 Jahre praktische Friedensarbeit: »Die DDR hat niemals Krieg geführt, sie war der deutsche Friedensstaat!« so Krenz. Ihre Gründer erhoben den Schwur von Buchenwald zur Leitlinie der Politik. Sogar die Siegerideologen vom »Forschungsverbund SED-Staat« hätten anerkennen müssen, dass »es nicht gelungen (sei), die DDR aus den Herzen der Menschen zu bekommen«. Selbstkritisch äußerte sich Krenz über die Unzulänglichkeiten des sozialistischen Staates: »Wir waren wie Wegbereiter.« Aber: »Die DDR taugt nicht als Aschenputtel deutscher Geschichte.«
Daniel Bratanovic aus der Chefredaktion von junge Welt hatte zuvor bereits die Gäste im großen Kinosaal begrüßt und wie nebenher mit einem Gundermann-Zitat genau den richtigen Umgang mit dem Phänomen DDR gefunden: »Ich habe aufs richtige Pferd gesetzt, aber es hat nicht gewonnen.«
Martin Küpper im Wendejahr 1989 geboren, Philosoph, Historiker und Publizist, sprach nach Krenz in seinem Vortrag über die größte Herausforderung der Sozialpolitik der DDR, die Lösung der Wohnungsfrage. Dass das industrielle Bauen in der Architekturkritik bis heute als in »Beton gegossene Langeweile und Tristesse« aufgefasst wird, wollte er so nicht stehen lassen. Die wohnlichen Gesamtstrukturen in den Städten sollten »durch erlebbare Kontraste gekennzeichnet sein, typisierte Bauten individuelle Aneignung und Gestaltung ermöglichen«. Gerade das »vergesellschaftete Wohnen« bot dazu alle Freiheiten – die natürlich in der Wirklichkeit an Grenzen stießen, wenn Mensch und Material am Bau rar war und gleichzeitig der Bedarf an modernem Wohnraum riesig. Nicht nur die Impulse, so Küpper, sondern auch die Ergebnisse dieser neuen Architektur waren in ihrer Vielfalt trotz allem beeindruckend.
Das nachfolgende Podiumsgespräch, das mit einer Kurzlesung der Schauspielerin Jennipher Antoni bereichert wurde, die Texte aus ihrem Programm zu Peter Hacks vortrug, konnte nicht alle Gäste im Saal erreichen. Ein Besucher ereiferte sich unverständlicherweise und provozierte so eine längere Unterbrechung. Dabei gab es viel Bedenkenwertes zu hören: Antoni und die Autorin Dörte Grimm kannten die DDR nur aus ihrer Kindheit, die Lehrerin und Liedermacherin Linda Gundermann wurde erst 1992 geboren. Eine symbolische Besetzung, die die Moderatorin Doreen Kähler hier vorstellte. Die Künstlerinnen stammen aus der Generation, die wohl am besten die Frage beantworten kann: »Was bleibt?«
Vor allem waren das Wünsche. Was bleibt, ist vor allem ein Bewusstsein des Verlorengegangenen. Die ausradierte DDR hat viele Leerstellen hinterlassen. Wo ist das Miteinander, das Füreinander-da-sein? fragte Antoni. Und Grimm fügte hinzu: »Ein Leben, ohne einen Gedanken an Geld verschwenden zu müssen«, sei heute gar nicht mehr vorstellbar. Linda Gundermann drückte das so aus: »Ich muss Miete zahlen – und diese mit Kunst in diesem Land zu verdienen, ist nicht realistisch.« Deshalb sei sie zuerst Gymnasiallehrerin und hernach Künstlerin. Zum Ende herrschte Einigkeit, als die Frauen betonten, dass die gegenwärtigen gesellschaftlichen und vor allem politischen Konflikte nur angegangen werden können, wenn wir miteinander reden und aufeinander zugehen, denn nur im anderen wird jeder sich selbst finden können.
Gundermann spielte im Anschluss mit ihrem Projekt »Linda und die lange Leitung« und verdeutlichte in dem Konzert gefühlvoll, aber wach, was alles im Heute steckt. Eigentlich nichts anderes als früher. Es sind die Menschen mit ihren kleinen Sorgen, es sind die weichen Gefühle, die in uns wie Blumen blühen und nicht zuletzt die Tränen, die bleiben, auch beim anderen.
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Von Egon Krenz hätte ich eine tatsächliche Selbstkritik erwartet. Schließlich gehörte er zum politischen Führungskreis der DDR, der den Zusammenbruch der DDR mitzuverantworten hatte. Er kann sich ebenso als letzter Generalsekretär des ZK der SED und Staatsratsvorsitzende der DDR nicht von einer Mitschuld des desaströsen Beitritts der DDR zur BRD freisprechen. Wir wissen um die fürchterlichen Folgen für die Bevölkerung der DDR, den Raub des Volkseigentums in Stadt und Land und das Verhindern eines Volksentscheides zum Beschließen einer gesamtdeutschen Verfassung nach dem damals noch gültigen Artikel 146 des bundesdeutschen Grundgesetzes. Auch irrt Herr Hagen Bonn, wenn er den Beitrag von Martin Küpper als »Vortrag über die größte Herausforderung der Sozialpolitik der DDR, die Lösung der Wohnungsfrage« herausstellt. Denn darüber hat Herr Küpper so gut wir gar nicht referiert. Wünschenswert im Rahmen seines Vortrages wäre es gewesen, die Aufgabenstellung, die damit verbundenen Herausforderungen und die erreichten Erfolge bei der Lösung der Wohnungsfrage als soziale Problem aufzuzeigen, zu der ausschließlich ein Staat mit einer sozialistischen Gesellschaftsordnung fähig ist. Generell war die Auswahl der am Podiumsgespräch Teilnehmenden nicht für einen solchen Anlass von Vorteil, da sie vom Alter kaum oder gar nicht über eigene DDR-Erfahrungen verfügen. Da muss die Frage erlaubt sein, wie Herr Hagen Bonn zu solch fehlgeleitetem Resümee kommen kann »Die Künstlerinnen stammen aus der Generation, die wohl am besten die Frage beantworten kann: «Was bleibt?»«. Nein, es ist unsere Generation, vor allem die bis 1960 in der DDR Geborenen, wir sind gefragt, Antworten zu geben. Mit seinem Artikel hat Herr Hagen Bonn dem Anspruch der JW keinen guten Dienst erwiesen. Sehr gelungen ist dagegen die Beilage »75 Jahre DDR« der JW vom 2. Oktober 2024, die auch dem Thema »Was bleibt« gerecht geworden ist.
Und dann? Es wäre wünschenswert gewesen, eine scharfe politische Diskussion zu führen, wahlweise über das Wesen der DDR selbst oder wenigstens über den Status der DDR-Delegitimierung und der Aufarbeitungsindustrie. Es wäre okay gewesen, den Abend mit Anekdoten und Reflektionen zu füllen, das hätte eine ostalgische Note gehabt, aber mit guten Geschichtenerzählern geht das.
Das Podium mit »Töchtern« zu besetzen, ist ein guter Witz, schließlich bleiben von der DDR gerade die Kinder, aber das Konzept dieser Runde erschloss sich nicht. Was sollten/wollten die Frauen zur Debatte beitragen? Was wollte die Moderatorin wissen, welche Thesen wollte sie in den Raum stellen? Warum über die DDR reden, beziehungsweise, warum bei dieser Veranstaltung nicht über die DDR reden? Schlimmer noch, warum Tür und Tor öffnen, gängige Mythen über die DDR durch Suggestivfragen zu bedienen, anstatt diese zu entzaubern?
Der Saal war voll besetzt. Ja, wie zu erwarten war das Publikum älteren Semesters, aber nicht nur. Was für eine verschenkte Gelegenheit!