Pflege vor Not-OP
Von Ralf WurzbacherDie Pflegeversicherung steht offenbar am Rande der Pleite. Greife die Politik nicht rasch ein, könnte das System »spätestens im kommenden Februar zahlungsunfähig« sein, schrieb am Montag das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Dann drohten Altenheime, Pflegedienste und -bedürftige sowie deren Angehörige plötzlich mittellos dazustehen. Ursachen der finanziellen Schieflage sind unzureichende Reformschritte in jüngerer Vergangenheit sowie eine deutliche Zunahme an Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind. Dem Bericht zufolge ist sich die Bundesregierung der Brisanz der Lage bewusst und arbeitet »bereits fieberhaft an einer Notoperation«. Möglich erscheinen eine neuerliche Erhöhung der Beiträge, Zuschüsse aus Steuergeldern oder Leistungskürzungen.
Für Ates Gürpinar, Sprecher für Krankenhaus- und Pflegepolitik der Bundestagsgruppe Die Linke, ist das Desaster hausgemacht. »Die Bundesregierung hat die Pflegeversicherung aktiv runtergewirtschaftet, indem sie sich weigert, die Finanzierungslogik zu ändern«, sagte er am Montag junge Welt. Besserverdienende und Vermögende würden geschont, etwa durch die Beitragsbemessungsgrenze, und Versicherte mit niedrigem Einkommen immer mehr belastet. »Das ist unsozial und falsch.«
Zuletzt war der allgemeine Beitragssatz zum 1. Juli 2023 von 3,05 Prozent auf 3,4 Prozent angehoben worden. Kinderlose zahlen seither vier Prozent, wogegen Familien mit mehr als einem Kind unter 25 Jahren von Abschlägen profitieren. Trotzdem rechnen die gesetzlichen Krankenkassen schon im laufenden Jahr mit einem Defizit von 1,5 Milliarden Euro, für 2025 gar mit 3,5 Milliarden Euro. Dabei schlägt insbesondere die Begrenzung der Eigenanteile für Heimbewohner deutlich stärker zu Buche als veranschlagt.
Vor einigen Wochen hatte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) eine weitere Reformrunde noch für diesen Herbst angekündigt. Diese sollte aber vornehmlich Leistungsverbesserungen mit sich bringen, von einem bevorstehenden Finanzkollaps war nicht die Rede. Jetzt herrscht plötzlich Untergangsstimmung.
Während der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung GKV zuletzt ein Beitragsplus von 0,2 Prozentpunkten empfohlen hatte, sieht die Ampel nun sogar einen Mehrbedarf von 0,25 bis 0,3 Punkten. Gerechtfertigt wird dies auch mit einer nach der Bundestagswahl im Herbst 2025 zu erwartenden Hängepartie bei der Findung eines Regierungsbündnisses. Deshalb müsse die Erhöhung laut RND so ausfallen, dass das Geld mindestens bis zum Frühjahr 2026 reiche.
Kommt es so, stehen den Bürgern zum Jahreswechsel die wohl heftigsten Aufschläge bei den Sozialbeiträgen seit über 20 Jahren ins Haus. Experten gehen davon aus, dass allein die Zusatzbeiträge für die GKV um mindestens 0,7 Prozent anziehen werden. Dabei haben etliche Kassen ihre Preise nicht nur zum Jahresanfang 2024, sondern darüber hinaus unterjährig angepasst, was in den Vorjahren die Ausnahme war. Bei Einkommen von 3.500 Euro netto könnten in kommenden Jahr Extraausgaben für Gesundheit und Pflege von jährlich 210 Euro dazukommen.
Alternativ käme im Fall der Pflege auch eine Geldspritze aus Steuermitteln in Frage. Tatsächlich besteht hier sogar ein Nachholbedarf aus Zeiten der Pandemie. Kosten für Covid-19-Tests und Boni für Klinik- und Pflegepersonal in Höhe von insgesamt sechs Milliarden Euro wollte die Ampel gemäß Koalitionsvertrag eigentlich längst den Pflegekassen erstattet haben. Wegen der angespannten Haushaltslage ist daraus bis heute nichts geworden.
Das gilt ebenso für das einstige Vorhaben, die Kassen von Rentenbeiträgen für pflegende Angehörige zu entlasten. Hier türmen sich drei Milliarden Euro an versicherungsfremden Leistungen, vor deren Übernahme sich der Bund drückt. Schließlich könnte sich die Regierung auch die geplante Zugabe bei den Pflegeleistungen in Umfang von 4,5 Prozent sparen, die zum 1. Januar 2025 greifen soll. Nur dürfte das den Wählern kaum gefallen. Linke-Politiker Gürpinar plädiert für einen Systemwechsel: »Wir brauchen eine Pflegeversicherung, in die alle einzahlen, dann reichen die Einnahmen sogar, um die Leistungen auszuweiten.«
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Andreas E. aus Schönefeld (7. Oktober 2024 um 20:08 Uhr)Und wir brauchen einen Bundeshaushalt, der sich von sinnlosen Mehrausgaben bei der Beschaffung von militärischem Altmetall befreit. Diese Milliarden gehören auch in die Sozialkassen. Die Aufrüstung der Bundeswehr, das Pampern der Ukraine und die Einhaltung des Zwei-Prozent-»Zieles« der NATO schreddern das Gesundheitssystem auf Kosten der Schwachen. Wann begreift diese Regierung es endlich, dass man nicht jeden Euro dreimal ausgeben kann? Aber Kinderbuchautoren, Politiker ohne irgendwelche Abschlüsse schaufeln sich die Taschen voll und schützen auch noch die Gut- und Best»verdienenden« vor dem Fiskus. Der schwache, auf Hilfe angewiesene Bürger kann sich nicht wehren – er hatte und hat keine Lobby. Dieses System ist so arm an breitem Mitgefühl, deshalb gehört es abgeschafft. Wir brauchen eine postkapitalistische, humanistische Gesellschaft, eine Gesellschaft, in der alle (!) Menschen auch dem Gemeinwohl dienen und nicht nur ihrem eigenen Kontostand. Vermögenssteuer muss jetzt kommen, alle Menschen zahlen in die Sozialkasse ein – in eine, und nicht in derzeit knapp 100 verschiedene Kassen, die alle ihren Verwaltungsapparat haben. Dazu muss man nicht studiert haben, um das zu begreifen. Da reicht gesunder Menschenverstand und eine vernünftige Allgemeinbildung.
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