Das Elend hat sich vervielfacht
Von Ralf WurzbacherDer zu Wochenbeginn durch die Deutsche Rentenversicherung (DRV) vorgelegte »Jahresbericht 2023« könnte glauben machen, dass das Seniorendasein in Deutschland ein einziges Zuckerschlecken ist. Egal, ob man Alters-, Erwerbsminderungs- oder Hinterbliebenenrente bezieht, in allen Fällen zeigt der Daumen nach oben. Denn, so DRV-Vorstandschef Alexander Gunkel, »rückschauend betrachtet hat es für die Rentnerinnen und Rentner seit 2010 ein deutliches Plus bei der Rente gegeben«. Das nehmen Regierende gerne zur Kenntnis und bereiten guten Gewissens die nächste Zumutung vor. Wie dieser Tage Springers Bild vorrechnete, könnte das geplante Rentenpaket der Koalition die Beschäftigten wegen steigender Beiträge im Schnitt um 800 Euro jährlich erleichtern – Geld, das sich fürs Alter nicht aufsparen lässt, beziehungsweise ein »Beitrag« mehr zur Schaffung von Altersarmut.
Dabei grassiert die hierzulande schon heute. Am Dienstag vermeldete die Neue Osnabrücker Zeitung (NOZ) unter Berufung auf das Statistische Bundesamt einen neuen Rekord bei der Zahl der Menschen, die Grundsicherung im Alter erhalten. Die Betroffenen verfügen über so geringe Bezüge im Ruhestand, dass sie auf zusätzliche staatliche Unterstützung angewiesen sind. Am Ende des ersten Halbjahrs 2024 zählte diese Gruppe bundesweit 728.990 Rentnerinnen und Rentner. Das waren 37.000 mehr als im Vorjahresvergleich. Geht man bis zum Jahr 2015 zurück, ergibt sich eine Zunahme der Leistungsempfänger um satte 39 Prozent. Damals gab es noch knapp über 523.000 Bedürftige. Anspruchsberechtigt ist man ab einem Alter von 67 Jahren, an dem die sogenannte Regelaltersgrenze einsetzt.
Bei der Wiesbadener Behörde eingeholt hat die Zahlen die Bundestagsgruppe des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW). Das sei »der nächste Offenbarungseid für die Ampel«, erklärte die Parteichefin gegenüber der NOZ. »Dass immer mehr Rentner zum Sozialfall werden, ist beschämend und eine bittere Bilanz für den zuständigen Minister Heil.« Daneben verwies Wagenknecht auf eine hohe Dunkelziffer, da sich »viele Senioren den demütigenden Gang zum Sozialamt« ersparten. Tatsächlich hatte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) 2019 ermittelt, dass seinerzeit rund 60 Prozent der Anspruchsberechtigten ihre Rechte nicht einlösten, sei es aus Scham, Stolz oder Unwillen, sich einem schikanösen Überwachungssystem zu unterwerfen.
Vor diesem Hintergrund sei »die ganze Wahrheit noch viel dramatischer«, befand am Dienstag Reiner Heyse von der Initiative »Rentenzukunft« gegenüber junge Welt. »Die Altersarmut hat eine ungebrochene Dynamik. Zynisch ausgedrückt: Hier findet echtes Wachstum statt.« So hätten noch vor 20 Jahren 250.000 Menschen »Armengeld« beansprucht, heute seien es fast dreimal so viele, »eine Verdreifachung des Elends«. Alarmiert zeigt sich auch der Rentenexperte der Bundestagsgruppe Die Linke, Matthias W. Birkwald. »Wir dürfen nicht weiter nur zusehen, wie die Altersarmut jedes Jahr weiter ansteigt«, nahm er am Dienstag gegenüber jW Stellung. »Die Zeit ist reif für einen Paradigmenwechsel. Wir Linken fordern, das Rentenniveau endlich wieder auf 53 Prozent anzuheben, wo es Mitte der 2000er schon lag, bevor es von SPD und Grünen in den Keller geschickt wurde.«
Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) will mit seinem in der parlamentarischen Beratung befindlichen »Rentenpaket II« das Rentenniveau auf dem Stand von 48 Prozent des Durchschnittseinkommens stabilisieren. Allerdings erscheint selbst das angesichts einer abermals renitenten FDP-Fraktion längst nicht sicher. Dabei liegt die BRD schon jetzt in puncto Rentenhöhe unter den 34 führenden Industriestaaten (OECD) auf dem viertletzten Platz, für Birkwald ein »Armutszeugnis für ein so reiches Land«. Die BSW-Vorsitzende Wagenknecht fordert eine »Volksabstimmung« am Tag der Bundestagswahl über die Einführung einer Rente nach österreichischem Vorbild. »Wenn ein langzeitversicherter Rentner in Österreich im Schnitt über 800 Euro im Monat mehr bekommt, muss das auch in Deutschland möglich sein.«
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