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Aus: Ausgabe vom 09.10.2024, Seite 6 / Ausland
Haiti

Voltaire gegen Haitis Krise

Rotation an Spitze von Übergangsrat. Tausende nach jüngstem Massaker auf Flucht.
Von Volker Hermsdorf
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Anhänger Leslie Voltaires feiern dessen Präsidentschaft im Übergangsrat (Port-au-Prince, 7.10.2024)

Begleitet von einigem Rumoren und wenige Tage nach einem verheerenden Massaker, hat Leslie Voltaire am Montag turnusgemäß den Vorsitz des Übergangspräsidialrats in Haiti übernommen. Der scheidende Präsident Edgard Leblanc Fils hatte sich geweigert, das Dekret zur Ratifizierung der Ablösung zu unterzeichnen. Er verwies auf ungeklärte Korruptionsvorwürfe gegen drei andere Ratsmitglieder, die weiterhin stimmberechtigt sind. Voltaire, der die linke Partei des zweimal von den USA gestürzten ehemaligen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide, Fanmi Lavalas, vertritt, rief zur Einigkeit auf und forderte, die nationalen über persönliche Interessen zu stellen. Die Zeiten seien ernst, und man müsse zusammenarbeiten, »um die Notlage zu bewältigen«.

Die Situation hat sich seit der vergangenen Woche weiter verschärft. Nachdem die USA im September Sanktionen gegen den Anführer der Gruppe »Gran Grif«, Luckson Elan, und den ehemaligen Abgeordneten Prophane Victor verhängt hatte, der die Gang mit Waffen ausgestattet haben soll, überfiel die Bande die Kleinstadt Pont-Sondé in Zentralhaiti. Dort soll Elan mehrere kleine Landebahnen betreiben, die »von Kolumbien aus stark frequentiert werden«, hieß es in auf X verbreiteten Meldungen. Laut örtlichen Medien wurden bei dem Angriff mindestens 70 Menschen getötet. Mehr als 6.000 versuchten, sich zu Fuß in Sicherheit zu bringen, berichtete die US-Agentur AP. Elan übernahm die Verantwortung für das Massaker und erklärte, es sei eine Vergeltung dafür, dass die Zivilbevölkerung untätig geblieben sei, während die Polizei und Bürgerwehrgruppen seine Soldaten getötet hätten. »Das ist eine Botschaft: Dass sie mächtiger sind als die anderen und dass sie bereit sind, brutale Gewalt gegen die Bevölkerung anzuwenden, um sicherzustellen, dass ihre territoriale Macht und wirtschaftliche Kontrolle unangetastet bleiben«, erklärte Romain Le Cour, ein leitender Experte für Haiti bei der »Globalen Initiative gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität«, gegenüber der Agentur. Er sei besorgt über die Auswirkungen des Massakers auf andere Banden, trotz einer von der UNO unterstützten Mission in Haiti. Diese war erst vergangene Woche vom UN-Sicherheitsrat um ein weiteres Jahr verlängert worden.

Allerdings werde die von kenianischen Polizisten angeführte Eingreiftruppe scheitern, so der brasilianische Soziologe Lautaro Rivara, der mehrere Jahre in Haiti gelebt hat, gegenüber Telesur. Er erinnerte an die fatalen Folgen von über einem Dutzend internationaler Missionen unter dem Kommando der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und der Vereinten Nationen, »ganz zu schweigen von den Staatsstreichen, die von internen Kräften, aber auch durch das Eingreifen ausländischer Mächte wie Frankreich, USA und Kanada unterstützt wurden«. Seit dem Sturz der 1991 aus »der einzigen transparenten und demokratische Wahl seiner Geschichte« hervorgegangenen progressiven Regierung von Aristide leide das Land unter einem Machtvakuum. Und »ein Machtvakuum kann nicht mit Kugeln gefüllt werden, sondern nur mit demokratischen Wahlen und einer legitimen politischen Autorität«, so Rivara.

Und der Druck nimmt weiter zu: Außenministerin Dominique Dupuy verurteilte am Montag in Port-au-Prince die vom Nachbarland Dominikanische Republik angekündigte Ausweisung von bis zu 10.000 Haitianern pro Woche. »Die brutalen Razzien und Abschiebungen, die wir erleben, sind ein Affront gegen die Menschenwürde. Diese Migrationspolitik der dominikanischen Regierung verstößt gegen internationale Standards«, schrieb die Diplomatin auf X. Sollte die Ankündigung umgesetzt werden, dürfte die Zahl der pro Jahr abgeschobenen Haitianer – 2023 waren es 200.000 – drastisch ansteigen. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) gelten derzeit bereits mehr als 700.000 Menschen, die Hälfte davon Kinder, als innerhalb des Landes vertrieben. Seit Juni wurde ein Anstieg um 22 Prozent verzeichnet, was darauf hinweise, »dass sich die humanitäre Lage weiter verschlechtert«. Deshalb forderten die Vereinten Nationen die Länder der Region auf, die Abschiebung von Haitianern zu stoppen, die in ihrer Heimat einer »Gefahrensituation« ausgesetzt seien.

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