Der kurze Schatten
Von Peer SchmittMan kann sich kaum gegen die Täuschung wehren, die er aufkommen lässt, wenn er von seinem eigenen Schatten verfolgt die Bühne auf und abgeht. Und sobald er in Erwartung des Songs, den er singen soll, mit seinem theaterblutverschmierten Lächeln den aufmerksamen Kameras schmeichelt, spürt man in den Logen einen unbestimmten Terror, den der zärtliche und bescheidene Ausdruck seiner brüchigen Stimme noch unterstreicht. Wer würde das künstlich animierte geschminkte Wesen nicht lieben wollen, da wenig so glücklich macht wie die Zuwendungen der Maske des Mörders, Showmans, Conférenciers, die ins Rampenlicht tritt.
Zwar hat der Joker in Todd Phillips’ »Joker: Folie à Deux« am Ende noch weniger zu lachen als in der schon sehr traurigen Origin Story von vor fünf Jahren, doch dafür darf er sich zumindest streckenweise in seiner Paraderolle produzieren: als Entertainer. »Joker: Folie à Deux« ist nichts anderes als ein Musical, was natürlich einiges für sich hat.
Die Firma Warner hat der Maske des Jokers in der Eröffnungssequenz sogar ihr altes »Looney Tunes«-Logo aus den 40ern überlassen. Entsprechend stolz schreitet ein Trickfilmjoker erst über den roten Teppich, dann durch ein Theaterfoyer, vorbei an den Plakaten signifikanter Musicalfilme wie »Pal Joey« (1957 mit Kim Novak, Rita Hayworth und Frank Sinatra). Man hört kurz »Get Happy« – das zwischenzeitlich als Titelmelodie der »Looney Tunes«-Filme diente, vor allem aber von Judy Garland in dem Filmmusical »Summer Stock« (Charles Walters, 1950) berühmt gemacht wurde. Endlich steht der Joker auf der ersehnte Bühne und singt Burt Bacharach »What the world needs now is love«, bevor Polizeiknüppel auf ihn niederregnen.
Der Blutregen führt dann zurück in so etwas wie Realfilm: die Martin-Scorsese-Folie eines New Yorks der frühen 80er wie im ersten Teil und die Knastgänge des Arkham Asylum, wo Brendan Gleeson als sadistischer Wärter die Zigaretten verteilt und die alten Showtunes summt.
Wenn es herabregnet auf das Arkham Asylum, gruppieren sich die Regenschirme schon einmal zum Zitat aus Jacques Demys »Les Parapluies de Cherbourg« (1964), aber Catherine Deneuve ist natürlich nirgendwo in Sicht. Dafür ist Lady Gaga als Lee Quinzel nicht weit, um den Joker, das arme Knastschwein, an seine wahre Bestimmung zu erinnern: die Maske und ihr blutrotes Lächeln. Lady Gaga rettet den Joker und den Film. Sie weiß, dass man kein bestimmtes Objekt begehrt, sondern die Maske, die Situation des Begehrens als solche. Dafür sind die Songs und Choreographien da. Denn irgendwie muss Joaquin Phoenix als jener Arthur Fleck, der vorgibt, der Joker zu sein, von seiner gezwungenen Pose befreit werden: geschundener knochiger Passionskörper, der im Knast die Pisseeimer leeren muss, mit Zigarette im Mund den Kopf nach hinten wirft, um sich auf seinen großen Traumauftritt im Rampenlicht vorzubereiten. Das Rampenlicht kommt aus dem Knastfernsehen, wo nicht nur Vincente Minnellis Über-Musical »The Band Wagon« (1953) läuft, sondern auch die genialen »Looney Tunes«-Trickfilme: »Show Biz Bugs« (Friz Freleng, 1957) oder »For Scent-imental reasons« (Chuck Jones, 1949). Mehr Rampenlicht wartet danach leider vor allem im Gerichtssaal. Mordprozesse als Musical gab es auch schon, etwa Bob Fosses »Chicago« von 1975, verfilmt dann 2001 von Rob Marshall. Im Gerichtssaal aber versteigt sich Arthur Fleck zu der Aussage: Es gibt keinen Joker. Damit hat er verspielt.
Vieles ist also versammelt, was Popaficionados, Cinephile und andere Archivare des Guten, Wahren und Schönen so oft schon Augen und Ohren hat übergehen lassen – Pepé Le Pew, Bugs Bunny, Daffy Duck, Vincente Minnelli, Jacques Demy und Burt Bacharach. Geschenkt. Aber schmecken einem all diese Appetithappen auch als Kanonenfutter für eine fortgesetzte Krankengeschichte und als Nebenattraktion für ein redundantes Courtroom-Drama, das Comic- und Musicalgeschichte zugleich als Leidensgeschichte der Welt (groß) und unglückliche Rezeptionsgeschichte der eigenen Vorarbeit (mickrig) verhandelt?
An den US-amerikanischen Kinokassen ist der Film am ersten Wochenende gefloppt, sagen die Agenturen. Die Kritiken sind auch recht durchwachsen. Formal ist dieser Film gewagter als sein Vorgänger, versucht, sich nach dem musikalischen Prinzip variierender Wiederholung zu ordnen, bleibt aber disparat in seiner Zitathölle gefangen. Er beginnt mit einer brillanten Animationssequenz, geht zu Gefängnistristesse über und beendet seine Gerichtsfilmverirrung mit einer Explosion und einer schier endlosen Einstellung, in der Arthur Fleck von den Trümmern des Gerichtssaals über eine Taxifahrt und eine Flucht zu Fuß auf befahrener Straße von der Handkamera bis zu jener Steintreppe in der Bronx verfolgt wird, wo sich bereits im ersten Teil sein Schicksal zu besiegeln schien. Diesmal wartet Lady Gaga auf ihn. Und ein letzter tödlicher Witz: Einer wird immer den Joker ziehen.
»Joker: Folie à Deux«, Regie: Todd Phillips, USA/Kanada 2024, 138 Min., bereits angelaufen
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