Einatmen, ausatmen
Von Tim MeierPlötzlich der Schock. Gerade mal drei Stücke alt ist das Konzert, da fällt Sänger Richard Jonckheere das Mikrofon aus der Hand. Er bückt sich, hebt es auf – und humpelt sofort zurück in seine Garderobe. Ausgerechnet bei »Body 2 Body«, der Hymne des Genres Electronic Body Music (EBM), das Front 242 mitbegründet haben. Die anderen drei Bandmitglieder, der Berliner Tim Kroker am E-Schlagzeug, Patrick Codenys am Keyboard, Sänger und Bandgründer Jean-Luc De Meyer, spielen tapfer das Lied zu Ende, dann verschwindet letzterer ebenfalls in den Backstagebereich. Die Musik verstummt, die anderen folgen De Meyer. Ungewisses Warten bei den mehreren hundert am Sonntag abend in der Columbia-Halle. De Meyer kommt nach ein paar Minuten auf die Bühne und informiert die gespannte Menge: Jonckheere sei gestürzt, man müsse jetzt die Diagnose des medizinischen Personals vor Ort abwarten. Zäh vergeht die Zeit, während die Halle vom Veranstalter mit Musik aus der Konserve beschallt wird. Codenys erscheint aus den Katakomben und sagt: »Richard hat einen … einen Muskelfaserriss. Das ist echt ganz beschissen.« Man schaue noch zehn Minuten, dann entscheide sich die Band über den Ausgang des Abends.
»Beschissener« kann die Abschiedstournee »Blackout« der 1981 gegründeten Formation nicht beginnen. Erst wurde aufgrund von Corona 2020 und dann zwei Jahre später wegen plötzlicher Krankheit De Meyers eine ausgedehnte Konzertreise abgesagt. Nun war den aus vielen Regionen Deutschlands angereisten Besucher bange, dass wieder alles ins Wasser fällt. Um so frenetischer der Applaus, als die Band geschlossen zurückkommt. Der 61jährige Jonkheere humpelt, grinst schmerzverzerrt, spricht lachend zur Menge: »Now you know why it’s the last tour! If I’m gonna hurt myself, I’ll do it for you! Now I’m gonna use this mic stand and with a little help from my friends we’re gonna finish this show!«
Ob es nun die Schmerzmittel der Sanitäter waren, die die Energie des Sängers übertragen, oder die Dankbarkeit über den Fortgang: Die sonst eher »kühle« Industrial- und EBM-Zuhörerschaft liefert Hilfe. Es wird gesungen, es wird getanzt und ja: sogar im Takt mitgeklatscht!
Zugegeben, der Autor bevorzugt das Frühwerk, vom Debüt »Geography« (1982) über das genredefinierende »No Comment«, die Achtungserfolge »Official Version« und »Front by Front« bis zum kommerziellen Durchbruch »Tyranny for You«. Sei’s drum. Jedes Lied, jede Bewegung des einbeinig tanzenden Jonckheere sowie die ausgeklügelten Visuals des abseits agierenden Mitbegründers Daniel Bressanutti lassen die ebenfalls leicht angegraute Menge eskalieren. Die fordert immer wieder das deutsche Lied »Im Rhythmus bleiben« mit dem inzwischen etwas lustig wirkenden Text »Einatmen, ausatmen«, doch das bleibt aus. Vielleicht kommen Besucher der weiteren (teils ausverkauften) Konzerte in Deutschland in den Genuss.
Die belgische Band fackelt weiter ihr Feuerwerk an Hits ab, die drei Herrschaften samt ihrem jüngeren Kollegen Kroker geben alles, und niemand achtet auf die berüchtigte Berliner 22-Uhr-Marke. Die Zugabe leitet wieder Jonckheere ein: Mit Verweis auf sein verletztes Bein kommentiert er wieder lachend: »It fucking hurts.« Doch mit Herzschmerz verlässt niemand die Columbia-Halle. Nach den letzten zwei Liedern wird mit Musik auf dem großen Bildschirm eine Bilderserie der Bandkarriere abgespielt, und dann erscheint ein letztes Mal die Gruppe unter langem Applaus.
Weitere Konzerte:
11. und 12.10., Hamburg, Markthalle; 18.10., Berlin, Huxley’s; 19.10., Oberhausen, Turbinenhalle; 25.10., München, Backstage; 26.10., Langen, Neue Stadthalle; letzte Show: 25.12., Chemnitz, Dark Storm Festival
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Martin M. aus Paris (8. Oktober 2024 um 21:54 Uhr)Wow, das ist eben auch eine Stärke der jW, über eine solche Gruppe zu schreiben. https://www.youtube.com/watch?v=8T2i-nGe3_U – das offizielle Video erst ab 18 Jahren … Eine der bekanntesten Zeilen des Liedes ist »I'm following a headhunter«, die auf verschiedene Weise interpretiert wurde. Manche sehen darin eine Anspielung auf Personalvermittler, die auf der Jagd nach talentierten Mitarbeitern sind, andere sehen darin eine Metapher für ein räuberisches System, das die Ambitionen und Wünsche der Menschen ausnutzt.
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