Vögel, Wolken, Tränen
Von Gisela Sonnenburg»Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht.« Rosa Luxemburg, die diese Weisheit formulierte, ist eine der wichtigsten Musen des Mannes, der allein mit dem Bleistift aus einem Gesicht eine ganze Landschaft und zugleich eine Geschichte macht. Ali Zülfikar, Wahlkölner und politisch denkender Künstler, hat seit einem runden Vierteljahrhundert seinen ureigenen Stil, der unverkennbar und doch immer wieder frisch wirkt. Mit den feinen Linien des Bleistifts formt er detailreiche, realistische Portraits auf Leinwand oder Büttenpapier – und zwar überdimensional groß. Mit Pathos kommt seine Kunst einher, aber auch mit Bescheidenheit. Denn das Zeichenmittel Stift ist das einfachste, das die Kunst hergibt. In der Maigalerie der jungen Welt in Berlin-Mitte zeigt Zülfikar ab Donnerstag abend, den 10. Oktober, in der »Reflexion« betitelten Ausstellung vierzig seiner Meisterwerke.
Diverse Plakate für die Schau in Berlin wurden zuletzt offenbar nicht zufällig beschädigt und zerstört. Kein Wunder, die Bilder können Rechten nicht gefallen: Es sind Portraits von Menschen, die, wie Ali Zülfikar es sagt, »mit ihren Mitteln für eine bessere Welt gekämpft haben und kämpfen«. Ikonen der Freiheit und der Revolution wie Che Guevara sind seine Helden. Aber auch Abdullah Öcalan, der Gründer der PKK, ist dabei. Die bekannten Gesichter werden hier einmal mehr zu Ikonen, beinahe zu Fetischen. Was ist schon ein Gesicht ohne das Wissen darum, wem es gehört?
Jede einzelne Furche in der Gesichtslandschaft, jedes einzelne Haar scheinen von Zülfikars Zeichenstift inbrünstig verehrt zu werden. Manchmal bleibt eine größere Fläche leer, und dann wirkt es, als würde das Licht über die Form triumphieren. Die Details der Gesichter aber korrespondieren miteinander. Rosa Luxemburg trägt hier ein kleines Hütchen – und schaut so sanft, sexy und dennoch aufmüpfig drein, als wäre sie eine politische Version von Lady Di.
Der Künstler und frühe Militärpilot Joseph Beuys zeigt hingegen scharfkantige Züge. Auch Nelson Mandela und Antonio Gramsci sind hier neu zu erkennen, und auch Greta Thunberg. Sie hat als aktuelle weibliche Reizfigur provozierenderweise eine Maske aufgesetzt, in krickeliger Schrift ist darüber zu lesen: »Geil, Maske«. Die Unbeholfenheit und Willfährigkeit einer ganzen lancierten Jugendbewegung zeigen sich darin.
Eine »tiefe emotionale Präsenz« will Zülfikar in jedem Gesicht lesen, bevor er es zum begehrten Objekt seiner Darstellung macht. Dann legt er los – und kennt kein Pardon mit den realistischen Kennzeichen einer Person. Äußerlich sind es Falten, Augenglanz und Hautflecken, die jemanden individualisieren. Aber die Gefühle, die aus den Bildern förmlich sprühen, sind intensiver zu spüren. Zuneigung und Leid, Trotz und Wehmut, Freude und Frust – die vielen verschiedenen Nuancen füllt der zeichnerische Realismus mit Herz.
Gerechtigkeit und Freiheit sind die Leitideale von Ali Zülfikar. Er wurde 1971 in Milelis in der Türkei geboren und studierte Malerei an der Fırat Universität in Elâzığ in der Osttürkei. Manchmal malt er mit Wollfarben, eine türkische Tradition. Aber Stipendien des Landes Nordrhein-Westfalen und ein städtisch gefördertes Atelier in Köln machen ihn auch stolz. Und: Seine Kunst war schon in rund 170 internationalen Ausstellungen zu sehen.
»Reflexion« heißt die kommende. Damit ist sowohl das Nachdenken, Überlegen und Abwägen gemeint, als auch die physikalische Widerspiegelung. Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel – bei aller künstlerischen Freiheit steckt viel Wahrheit in Zülfikars Bildern. Seine eindringlich blickenden Augen sehen so manche Heuchelei, die sich hinter guten Absichten verbirgt. Aber er hält es den Menschen immer zugute, wenn sie sich anstrengen, um nicht nur ihre eigene Situation zu verbessern. Skepsis und Respekt halten sich bei ihm die Waage.
Dass jemand wie er auch eine pädagogische Ader hat, verwundert nicht. In der Kunstakademie Heimbach in der Eifel schult er begabte Laien wie angehende Profis. Die Welt gehört ihm, wenn er zeichnet und damit Zeichen sendet. »Ich fühle mich in der ganzen Welt zu Hause, wo es Wolken und Vögel und Menschentränen gibt.« Auch das sagte Rosa Luxemburg, aber der Haltung nach könnte das Zitat von Ali Zülfikar stammen. Scharfer Frohsinn, das ist seine Sache.
Ali Zülfikar: »Reflexion«, bis zum 14. November 2024, Maigalerie der jungen Welt, Torstr. 6, 10119 Berlin; Vernissage am 10. Oktober, Einlass 18.30, Beginn 19.00 Uhr
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